Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen im Unterricht der Politischen Bildung. Eine praxeologische Studie.

Promovendin: Vera Sperisen
Keywords: Migration, Doing Difference, Orders of Belonging, Subject-Oriented Approach, Civic Education, Empirical Educational Research
Gutachtende: Prof. Dr. Monika Waldis, Prof. Dr. Walter Leimgruber
Projektbeginn: HS 2019

Abstract
Im geplanten Promotionsvorhaben werden die Strukturen von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen und die performative Herstellung dieser Strukturen in Interaktionen (performative Sprechakte etc.) während des Unterrichts der Politischen Bildung untersucht. Das Forschungsprojekt hat explorativen Charakter, arbeitet mit qualitativen Forschungsmethoden und orientiert sich an einem ethnomethodologischen Zugang. Die Datenerhebung und Datenverarbeitung erfolgt im Rahmen des SNF-Projekts «Doing/Undoing Difference in Politischer Bildung». Als Datengrundlage der Dissertation dienen primär videografierte Unterrichtslektionen von sieben Schulklassen (Sek I, Deutschschweiz) sowie Lehrpersoneninterviews und Gruppengespräche mit den Schüler*innen. Das Sampling erfolgte mittels einer Kontrastfallsuche. Die Analyse der Daten ist auf die Zugehörigkeitsordnungen fokussiert, welche die Prozesse der Differenzkonstruktion strukturieren. Zudem wird eine Theoriebildung angestrebt. Anhand der Erkenntnisse aus der Empirie soll als Erweiterung zum Nationalfondsprojekt die anwendungsorientierte Didaktik der Politische Bildung (differenzsensible und rassismuskritische Bildung) weiterentwickelt werden.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz sind diejenigen einer Migrationsgesellschaft (Vgl. Mecheril, 2010, S. 11). Diese Tatsache hat Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Realitäten. «Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit – nicht nur die der sogenannten Migrantinnen und Migranten – individuell, sozial und gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Differenzlinie problematisiert wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört, die das ’Innen‘ von dem ’Aussen‘ scheidet» (Mecheril & Hoffarth, 2009, S. 244–245). Der konstruktivistische Charakter von Differenz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass symbolische Differenzordnungen äusserst wirkungsmächtig sind. Sie bringen reale Diskriminierungen mit sich, entscheiden über eine ungleiche Verfügbarkeit von ökonomischen, kulturellen, symbolischen und sozialen Ressourcen (Vgl. Bourdieu, 1992) und über die identitären Möglichkeitsräume zur Selbstpositionierung der Subjekte. So zeigt eine Vielzahl von Studien und Metaanalysen seit vielen Jahren, insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum (Vgl. Baron et al., 1985; Dusek & Gail, 1983; Tenenbaum & Ruck, 2007), aber auch aus der Schweiz (Vgl. Kronig, 2000; Neuenschwander et al., 2018), dass Lehrererwartungen mit Schülermerkmalen wie der ethnischen und sozialen Herkunft in Zusammenhang stehen. Vor dem Hintergrund, Ungleichheiten abzubauen und insbesondere die sogenannte Chancengerechtigkeit zu erreichen, wird das Differenz-Thema in den Erziehungswissenschaften schon lange bearbeitet. Seit rund zwanzig Jahren wird nach dem «richtigen» Umgang mit Heterogenität in der Schule und insbesondere im Unterricht gefragt (Vgl. Budde, 2012; Walgenbach, 2014). Budde macht in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Heterogenität eine «latente Verklärung von Vielheit und eine Nivellierung von Machtverhältnissen im Spiel von Gleichheit und Differenz» fest (Budde, 2014, S. 11). Vor dem Hintergrund, dass es dem Bildungssystem «gegenwärtig so gut wie nicht gelingt [...], herkunftsbedingte Ungleichheiten spürbar auszugleichen», sondern diese, wie Thomas Rauschenbauch bereits vor zehn Jahren konstatierte, vielmehr «durch die Bildungssettings noch verstärkt» werden (Rauschenbach, 2009, S. 219), müssen sich auch pädagogische Institutionen und pädagogisch Handelnde fragen, inwiefern sie selber am ’doing difference‘ beteiligt sind.

Im Fokus des vorliegenden Dissertationsprojekt stehen die natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen im Unterricht der Politischen Bildung. Folgende Fragen werden bearbeitet:

  1. Wie werden natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen durch den Vollzug von sozialen Praktiken im Unterricht der Politischen Bildung manifest und wie sind diese Ordnungen strukturiert? Der theoretische Hintergrund liefert hierbei das ethnomethodologische Theorem des doing und undoing difference. Aus dieser Perspektive heraus werden nicht die Unterschiede zwischen den als unterschiedlich attributierten Schüler*innen, sondern die Struktur, welche die Praktiken der Unterscheidung bestimmt, in den Blick genommen. Ein besonderer Fokus liegt auf natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen (Vgl. Mecheril, 2003), die auf der Basis von empirischen Materialien (Unterrichtsvideografie, Lehrpersoneninterviews, Gruppengespräche) für den Kontext der Politischen Bildung erschlossen werden.
  2. Basierend auf den Erkenntnissen des empirischen Forschungsteils wird eine theoretisch didaktische Arbeit geleistet, die im Sinne Butlers auch die Resignifizierung bestehender Zugehörigkeitsordnungen zum Ziel hat. Folgende Frage steht dabei im Zentrum: Welche alternativen didaktischen Konzepte im Umgang mit Fragen der Zugehörigkeit sind in der Politischen Bildung denk- und umsetzbar? Hier wird eine didaktische Theoriebildung für die Politische Bildung angestrebt, die unterschiedlichen Dimensionen wie Lehr-Lerntheorien, Subjektivierungstheorien und die Erkenntnisse aus der aktuellen Praxis verbinden soll. Der Orientierungsrahmen dieser Theoriearbeit bildet:
  • Der staatliche Auftrag der Schule in Bezug auf die Gleichheit aller (Verfassung, Lehrplan 21, kantonale Volksschulgesetze).
  • Die Lehrziele von Lehrpersonen in der Politischen Bildung, die sich mehrheitlich an diesem staatlichen Auftrag orientieren (Intention der Lehrpersonen).
  • Die bisherigen empirischen Erkenntnisse im Feld der Politischen Bildung, die sich auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen beziehen und zusammengezogen werden sollen.

Literatur

Baron, R. M., Tom, D. Y., & Cooper, H. M. (1985). Social class, race and teacher expectations. In J. B. Dusek (Hrsg.), Teacher Expectations (S. 251–269).

Bourdieu, P. (1992). Die verborgenen Mechanismen der Macht (M. Steinrücke & J. Bolder, Hrsg.; Bd. 1). VSA.

Budde, J. (2012). Die Rede von der Heterogenität in der Schulpädagogik: Diskursanalytische Perspektiven. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 13(2), 31.

Budde, J. (2014). Differenz beobachten? In A. Tervooren, N. Engel, M. Göhlich, I. Miethe, & S. Reh (Hrsg.), Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern: Internationale Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Forschung (S. 133–148). Transcript.

Dusek, J. B., & Gail, J. (1983). The bases of teacher expectancies: A meta-analysis. Journal of Educational Psychology, 75(3), 327–346. Kronig, W. (2000). Die Integration von Immigrantenkindern mit Schulleistungsschwächen: Eine vergleichende Längsschnittuntersuchung über die Wirkung integrierender und separierender Schulformen. [éditeur non identifié].

Mecheril, P. (2003). Prekäre Verhältnisse: Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit. Waxmann.

Mecheril, P. (2010). Migrationspädagogik. Beltz.

Mecheril, P., & Hoffarth, B. (2009). Adoleszenz und Migration. Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen. In V. King & H.-C. Koller (Hrsg.), Adoleszenz—Migration—Bildung: Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund (2., erw. Aufl, S. 239–358). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Neuenschwander, M., Mayland, C., & Niederbacher, E. (2018). Wie faire Beurteilung möglich ist. Bildung Schweiz, 12, 34–35.

Rauschenbach, T. (2009). Bildung – eine ambivalente Herausforderung für die Soziale Arbeit? Soziale Passagen, 1, 209–225.

Tenenbaum, H. R., & Ruck, M. D. (2007). Are teachers’ expectations different for racial minority than for European American students? A meta-analysis. Journal of Educational Psychology, 99(2), 253–273.

Walgenbach, K. (2014). Heterogenität. Bedeutungsdimensionen eines Begriffs. In R. Casale & N. Ricken (Hrsg.), Heterogenität. Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts (S. 19–44). Schoening.