MINT-Fächer und ihr «Heimlicher Lehrplan»? Über (fehlende) weibliche Vorbilder in Physiklehrmitteln und Lehrpersonenerwartungen von Geschlechterdisparitäten im (Mathematik-)Unterricht

Promovendin: Jana Lindner, jana.lindner@clutterunibas.ch
Keywords: Heimlicher Lehrplan, MINT-Fächer, weibliche Vorbilder, Lehrpersonenerwartungen
Gutachtende: Prof. Dr. Elena Makarova, Institut für Bildungswissenschaften IBW, Universität Basel (CH); Prof. Dr. em. Andrea Maihofer, Zentrum Gender Studies, Universität Basel (CH)
Projektbeginn: FS 2019

Problemstellung und wissenschaftliche Bedeutsamkeit
Die Bezeichnung «Heimlicher Lehrplan» macht darauf aufmerksam, dass neben curricularer Vorgaben und der Vermittlung von fachspezifischem Wissen auch verdeckt schulische Sozialisationsprozesse stattfinden, die das Lernen und die Entwicklung von Schüler*innen prägen (Kandzora 1996). So belegt die Schulbuchforschung, dass der «heimliche Lehrplan» subtil eine hierarchische Geschlechtererziehung vermittelt und Frauen und Mädchen aufgrund fehlender Repräsentation und stereotypen Darstellungen in Lehrmitteln diskriminiert (Moser 2016). Studien mit Fokus auf mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrmitteln bestätigen die starke Überrepräsentation von männlichen Protagonisten (Herzog, Makarova & Fanger 2019; Makarova, Aeschlimann & Herzog 2019). Dass Schüler*innen in der Schweiz die Fächer Mathematik, Chemie und Physik dem männlichen Geschlecht zuschreiben (Makarova, Aeschlimann & Herzog 2016), deckt sich mit dem Befund zahlreicher Studien, wonach Fächern ein geschlechtsbezogenes Image anhaftet (Herzog 1998; Kessels et al. 2006; Makarova & Herzog 2015).

Schüler*innen, die sich mit einseitigen und stereotypen Darstellungen konfrontiert sehen und denen (weibliche) Vorbilder fehlen, wird jegliche Grundlage für Motivation, Interesse, Selbstvertrauen und Identifizierung mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern entzogen (Eccles 1989; Kessels 2005; Kessels, Rau & Hannover 2006). Dabei sind gerade jene Faktoren – die Selbsteinschätzung der eigenen Begabung, Freude und Interesse am Fach sowie fachliche Leistungen – ausschlaggebend für die Wahl eines MINT-Studiums (Aeschlimann, Herzog & Makarova 2016). Die Folge davon ist, dass vor allem Mädchen und junge Frauen MINT-Fächer und -Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) meiden.

Grossen Einfluss auf Schüler*innen, deren Leistungen (Rosenthal & Jacobson 1974; Dusek & Joseph 1983) und Partizipation im Unterricht (Banerjee et al. 2018) haben Lehrpersonen. Diese über- oder unterschätzen Schüler*innen aufgrund askriptiver Merkmale wie Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft (Lorenz et al. 2016) und schreiben Schülern höhere mathematische Fähigkeiten als Schülerinnen zu (Tiedemann & Billmann-Mahecha 2002; Jaremus et al. 2020). Geschlechtsbezogene Leistungsdisparitäten tragen folglich dazu bei, Geschlechterstereotype und einseitige Rollenbilder zu reproduzieren. Dies befördert nicht nur die berufliche Geschlechtersegregation in der Schweiz, sondern beeinträchtigt auch auf individueller Ebene Lebenschancen von jungen Frauen und Männern (Gottfredson 2002).

Forschungsfragen
Das Erkenntnisinteresse meines Dissertationsvorhabens zielt auf die Frage ab, inwiefern die (subtile) Vermittlung von sozialisationsspezifischem Wissen über Geschlechterrollen und Männlichkeits- sowie Weiblichkeitsbilder in MINT-Fächern Wahrnehmungen und Erwartungen schulischer Akteur*innen prägt:

Inwiefern manifestiert sich ein «Heimlicher Lehrplan»

I. Bei Lehrpersonen bezüglich ihrer
a. Wahrnehmung und Interpretation von gendersensiblen Vorbildern in Lehrmitteln,
b. Erwartungen von mathematischen Kompetenzen von Schüler*innen und

II. Bei Schüler*innen bezüglich ihrer
a. Wahrnehmung und Interpretation von gendersensiblen Vorbildern in Lehrmitteln und
b. Bedeutungszuschreibung von weiblichen beruflichen Vorbildern in Lehrmitteln im Hinblick auf die eigenen Berufswünsche?


Materialgrundlage und methodischer Zugang
Der methodische Zugang meines Dissertationsvorhabens stellt die Kombination qualitativer und quantitativer Forschung dar. Daten sind qualitativ in 60 Interviews, als auch quantitativ in einer Online-Befragung mit 275 Teilnehmer*innen in zwei Studien generiert worden:

Im Rahmen der ersten Studie «Naturwissenschaft ist (auch) Frauensache! Geschlechtergerechtigkeit von Lehrmitteln auf der Sekundarstufe II» (Projektlaufzeit August 2017 – Dezember 2019), die die Wahrnehmung von Physiklehrmitteln untersucht, sind qualitative Interviews mit Lehrpersonen und gruppenweise mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt und sodann transkribiert worden. Mittels computergestützter qualitativer Inhaltsanalyse und einem deduktiv erstellten Kategoriensystem, das nach einem ersten Kodiervorgang zweier Interviews überarbeitet und induktiv erweitert wurde, konnten erste Daten bereits ausgewertet werden.

In der zweiten Studie «Auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter in der Bildung - Analyse geschlechtsbezogener Vorurteile von Lehrpersonen» (Datenerhebung Oktober 2019 – März 2020) erfolgte die Erhebung mittels Online-Befragung. Die Studie analysiert geschlechtsbezogene Vorurteile von Lehrpersonen hinsichtlich fachspezifischer Leistungen in Mathe und dem Verhalten von Schülerinnen und Schülern im Unterricht (Lindner, Bernhard & Makarova 2020).


Forschungsvorhaben und erwarteter Erkenntnisgewinn
Die Dissertation möchte den Blick auf bestehende Missstände lenken und deutlich machen, wie dringend Aufklärung und Sensibilisierung schulischer Akteur*innen erforderlich ist, um Geschlechtergerechtigkeit im schulischen Kontext zu verankern. Das wiederum setzt voraus, die Haltung der betroffenen Akteur*innen zu kennen und zu verstehen, um wirkungsvolle Massnahmen einleiten zu können. Trotz der hohen pädagogischen und bildungspolitischen Relevanz des Themas, fehlt es an Studien, die darüber bzw. über oben genannte Fragen Aufschluss geben können. Mit meinem Dissertationsprojekt möchte ich einen Beitrag leisten, den Erkenntnisgewinn voranzutreiben.


Literatur
Aeschlimann, B., Herzog, W. & Makarova, E. (2016): How to foster students´ motivation in mathematics and science classes and promote students´ STEM career choice. A study in Swiss high schools. International Journal of Educational Research, 79, 31-41.
 

Banerjee, M., Schenke, K., Lam, A., & Eccles, J. S. (2018): The roles of teachers, classroom experiences, and finding balance: A qualitative perspective on the experiences and expectations of females within STEM and non-STEM careers. International Journal of Gender, Science and Technology, 10(2), 287–307.
 

Dusek, J.B. & Joseph, A. (1983): The bases of teacher expectation: A meta-analysis. Journal of Educational Psychology, 75(3), 327-346.
 

Eccles, J. S. (1989): Bringing young women to math and science. In: M. Crawford & M. Gentry (Hrsg.), Gender and thought: Psychological perspectives (36-58). New York: Springer.
 

Gottfredson, L. S. (2002): Gottfredson’s Theory of Circumscription, Compromise and Self-Crreation. In: Brown, D. (Hrsg.), Career Choice and Development (85-148). San Francisco: Josey-Bass.
 

Herzog, W. (1998): Chancengleichheit und naturwissenschaftliche Bildung. Zur Förderung von Mädchen im koedukativen Physikunterricht. In: E. Nadai & T.-H. Ballmer-Cao (Hrsg.), Grenzverschiebungen. Zum Wandel des Geschlechterverhältnisses in der Schweiz (119-146). Zürich: Rüegger.
 

Herzog, W., Makarova, E., & Fanger, F. (2019): Darstellung der Geschlechter in einem Physik und in einem Chemieschulbuch für die Sekundarstufe II. In: E. Makarova (Hrsg.), Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl: Beiträge aus Forschung und Praxis (108-127). Bern: Hep Verlag.
 

Kandzora G. (1996): Schule als vergesellschaftete Einrichtung: Heimlicher Lehrplan und politisches Lernen. In: B. Claußen & R. Geißler (Hrsg.), Die Politisierung des Menschen. Reihe: Politische Psychologie, Vol 2. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
 

Kessels, U. (2005): Fitting into the stereotype: How gender-stereotyped perceptions of prototypic peers relate to liking for school subjects. European Journal of Psychology of Education, 20(3), 309-323.
 

Kessels, U., Rau, M., & Hannover, B. (2006): What goes well with Physics? Measuring and altering the image of science. British Journal of Educational Psychology, 76, 761-780.
 

Jaremus, F., Gore, J., Prieto-Rodriguez, E. & Fray, L. (2020): Girls are still being ‘counted out’: Teacher expectations of high-level mathematics students. Educational Studies in Mathematics 105, 219-236.
 

Lindner, J., Bernhard, D., & Makarova, E. (2020): Auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter in der Bildung. Forschungsbericht: Dokumentation der Schweizer Studie im Rahmen der ländervergleichenden Studie Towards Gender Harmony – Understanding the Relationship between Masculinity Threat and Gender Equality Across Cultures. Dokumentation der nationalen Ergänzungsstudie Analyse geschlechtsbezogener Vorurteile von Lehrpersonen. Basel: Universität Basel, Institut für Bildungswissenschaften.
 

Lorenz, G., Gentrup, S., Kristen, C., Stanat, P. & Kogan, I. (2016): Stereotype bei Lehrkräften? Eine Untersuchung systematisch verzerrter Lehrererwartungen. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 68, 89-111.
 

Makarova, E., Aeschlimann, B., & Herzog, W. (2016): Wenn Frauen in MINT-Studiengängen fehlen: Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht und die Studienwahl junger Frauen (39-57). In: H. Faulstich-Wie-land (Hrsg.), Berufsorientierung und Geschlecht. Weinheim: Juventa-Verlag.
 

Makarova, E. & Herzog, W. (2015): Trapped in the gender stereotype? The image of science among secondary school students and teachers. Equality, Diversity and Inclusion: An International Journal, 34(2), 106–123.
 

Moser, F. (2016): Schulbuchanalysen unter Geschlechtergesichtspunkten. In EEO – Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 1-24.
 

Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1974): Pygmalion im Unterricht. Weinheim: Belz.
 

Tiedemann, J. & Billmann-Mahecha, E. (2002): “Schwierige Klassen” in der Wahrnehmung von Lehrkräften. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 16, 3/4, 165-175.