Globalgeschichtliche Perspektiven und historisches Lernen im Geschichtsunterricht (Sek II)

Promovend: Dominic Studer
Keywords: Globalgeschichte, globalgeschichtliche Perspektive, Geschichtsunterricht, Unterrichtsforschung
Gutachtende: Prof. Dr. Monika Waldis, Prof. Dr. Martin Lengwiler
Projektbeginn: FS 2022

Obschon Ansätze der Globalgeschichte und weitere Perspektiven wie jene der postcolonial studies in der Geschichtswissenschaft bereits zum Mainstream gehören, steht in Geschichtsunterricht und Geschichtslehrmitteln der Sekundarstufe II (Gymnasium) nach wie vor eine eurozentrische Perspektive im Vordergrund. (Marti 2021, Popp 2002, Bernhard/Popp/Schumann 2021, Poulsen 2013) Hier setzt das Dissertationsprojekt an und untersucht das historische Lernen von Schüler*innen im Rahmen globalgeschichtlicher Perspektiven im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II. Eine solche globalgeschichtliche Perspektive «ordnet ein historisches, beispielsweise nationalgeschichtlich relevantes Thema in transregional oder eben globalgeschichtliche Zusammenhänge ein». (Bernhard/Popp/Schumann 2019: 9) Dadurch wird es möglich, bestehende Lehrpläne, die oft keinen – oder nur minimalen – globalgeschichtlichen Bezug haben, mit einer globalgeschichtlichen Perspektive anzureichern.

Als Forschungsgrundlage dienen Daten, die im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Globalgeschichtliche Perspektiven im Schweizer Geschichtsunterricht» erhoben werden. Im SNF-Projekt findet gemeinsam mit Geschichtslehrpersonen der Sekundarstufe II anhand von fachlichen Inputs eine Auseinandersetzung mit aktueller globalgeschichtlicher Forschung und mit der Orientierungsfunktion von Geschichte statt. Darauf aufbauend entwickeln die Beteiligten globalgeschichtliche Unterrichtseinheiten, die sie in eigenen Klassen durchführen. Die Unterrichtseinheiten werden videografiert und im Anschluss daran wird auf der Basis ausgewählter Sequenzen mit Schüler*innen sowie der Lehrperson ein «Stimulated Recall»-Interview durchgeführt. (Calderhead 1981, Nguyen et al. 2013) Zudem erfolgt eine Erhebung mittels Fragebogen aller Schüler*innen und Schüler jeweils ungefähr eine Woche vor und nach der Unterrichtseinheit. Aus diesem Datenkorpus sind die «Stimulated Recall»-Interviews die primäre Datenquelle des Dissertationsprojekts, denn sie ermöglichen einen Einblick in die Lernprozesse und Lernerfahrungen der Schüler*innen.

Anhand der Daten soll die übergeordnete Frage geklärt werden, ob und inwiefern die Schüler*innen die in den Lektionen umgesetzten globalhistorischen Perspektiven wahrnehmen und bei der eigenen Auseinandersetzung mit dem unterrichteten Thema einbeziehen. So soll die Analyse darlegen, ob durch die Unterrichtseinheiten ein Impuls geliefert wird, der es den Schüler*innen ermöglicht, eurozentristische Geschichtsbilder kritisch zu befragen, die Perspektiven nicht-europäischer bzw. subalterner Akteure zu erschliessen sowie die Wirkungen globaler Verflechtungen zu erkennen und zu analysieren. Insoweit es das Datenmaterial zulässt, soll darüber hinaus analysiert werden, in welchem Masse sich Zusammenhänge zwischen individuellen (sozio-demographischen) Hintergründen der Schüler*innen und der Wahrnehmung und Deutung globalhistorischer Perspektiven zeigen.

Die Auswertung erfolgt über eine qualitative Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016); dabei werden in den «Stimulated-Recall»-Interviews verschiedene Kategorien identifiziert, die Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der globalhistorischen Perspektive ermöglichen. Diese sollen dann wiederum auf die Kompetenzanbahnung (Schreiber et al. 2006) einerseits und das Geschichtsbewusstsein (Rüsen 2008) andererseits zurückbezogen werden und somit die Klärung der oben genannten Fragestellungen ermöglichen. Da globalgeschichtliche Perspektiven grundsätzlich die Verflechtung und Multiperspektivität betonen, können diese «der Anbahnung einer lokal-globalen Frage und Orientierungskompetenz und eines damit verbundenen Habitus des historischen Denkens» förderlich sein. (Bernhard/Popp/Schumann 2019: 12) Somit soll neben der oben genannten kritischen Reflexion von eurozentristischen Geschichtsbildern (Alavi 1998: 267) erkannt werden, ob die Schüler*innen Alteritätserfahrungen in den entsprechenden Lektionen machen und wie sie diese wahrnehmen. (Schwabe 2020: 43, Buchsteiner 2017: 110) Ebenso sollen die Aussagen der Schüler*innen auf ein Perspektivbewusstsein hin untersucht werden. (Mathis 2021)

Die qualitative Auswertung wird ergänzt durch quantitative Daten aus den Fragebögen, die es ermöglichen Rückschlüsse zu ziehen, wie die Schüler*innen die Unterrichtseinheiten mit globalhistorischer Perspektive in Bezug auf den subjektiven Lebensweltbezug (Sebening 2021, Jonas 2018) sowie die (gesellschaftliche) Relevanz beurteilen.

Die Analysekategorien sind an der Schnittstelle zwischen der Globalgeschichte als Disziplin der Geschichtswissenschaft und den globalgeschichtlichen Perspektiven als geschichtsdidaktisches Prinzip angesiedelt. So versteht sich das Dissertationsprojekt selbst ebenfalls als interdisziplinäre Forschung zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik. Die geschichtswissenschaftliche Sicht wird zur Klärung des theoretischen Konzepts der Globalgeschichte einbezogen (Conrad 2016, Osterhammel 2009, Conrad/Eckert/Freitag 2007) und dient des Weiteren als Hintergrund für die bearbeiteten historischen Ausschnitte in den Unterrichtslektionen sowie die damit einhergehenden Diskurse. Die geschichtsdidaktische Sicht bildet den Hintergrund für die Analyse der Unterrichtswahrnehmungen. Insbesondere interessiert der Zusammenhang zwischen Lehr-Lernprozessen im Unterricht und deren Wirkung auf Geschichtsbewusstsein und historische Kompetenzen.

Literatur
Alavi, Bettina (1998): Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft: eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt: IKO, Verlag für Interkulturelle Kommunikation. (= Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Migrationen, Ethnizität und gesellschaftlicher Multikulturalität Bd. 9).

Bernhard, Philipp; Popp, Susanne und Schumann, Jutta (2019): Zur Einführung. In: Bernhard, Philipp; Popp, Susanne und Schumann, Jutta (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg – globalgeschichtlich betrachtet. Perspektiven für den Geschichtsunterricht. St. Ingbert. (= Fortbildung Geschichte. Ideen und Materialen für Unterricht und Lehre 12). S. 7–17.

Bernhard, Philipp; Popp, Susanne und Schumann, Jutta (2021): Ein geschichtsdidaktisches Plädoyer für die obligatorische Verankerung globalgeschichtlicher Perspektiven in den Geschichtscurricula. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 20/1 (Oktober). S. 18–32. doi:10.13109/zfgd.2021.20.1.18.

Buchsteiner, Martin (2017): Unterschätzte Prinzipien im Geschichtsunterricht Personalisierung/Personifizierung und Alterität/Fremdverstehen. Norderstedt: BoD- Books on Demand.

Calderhead, James (1981): Stimulated Recall: A Method for Research on Teaching. In: British Journal of Educational Psychology 51/2. S. 211–217. doi:https://doi.org/10.1111/j.2044-8279.1981.tb02474.x.

Conrad, Sebastian (2016): What is global history? Princeton: Princeton University Press.

Conrad, Sebastian; Eckert, Andreas und Freitag, Ulrike (Hrsg.) (2007): Globalgeschichte: Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt: Campus-Verlag. (= Reihe Globalgeschichte 1).

Jonas, Katharina (2018): Zum Verhältnis von Interesse und Lebensweltbezug bei Lernaufgaben im Unterrichtsfach Geschichte. Universität Passau. [https://opus4.kobv.de/opus4-uni-passau/frontdoor/index/index/docId/774; 22.3.2021].

Kuckartz, Udo (2016): Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim Basel: Beltz Juventa. (= Grundlagentexte Methoden).

Marti, Philipp (2021): Wozu (Global-)Geschichte? Didaktische Potentiale von Globalgeschichte in der geschichtsdidaktischen Diskussion. In: Kuhn, Konrad J.; Nitsche, Martin; Thyroff, Julia und Waldis, Monika (Hrsg.): ZwischenWelten. Grenzgänge zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Geschichtsdidaktik und Politischer Bildung. Münster: Waxmann. S. 131–147.

Mathis, Christian (2021): Geschichte als Herausforderung und Möglichkeit: Über Perspektivität und Diskursivität im Geschichtsunterricht. In: Pädagogische Rundschau 75/3 (Januar). S. 307–322. doi:10.3726/PR032021.0028.

Nguyen, Nga Thanh; McFadden, Amanda; Tangen, Donna und Beutel, Denise (2013): Video-Stimulated Recall Interviews in Qualitative Research. Australian Association for Research in Education. Adelaide: Australian Association for Research in Education. [https://eric.ed.gov/?id=ED603301; 4.11.2020].

Osterhammel, Jürgen (2009): Weltgeschichte: Von der Universität in den Unterricht. In: Geschichte für heute: Zeitschrift für historisch-politische Bildung 2/3. S. 5–13.

Popp, Susanne (2002): Geschichtsunterricht jenseits der Nationalhistorie? In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik: Grundfragen – Forschungsergebnisse – Perspektiven 1/1. S. 100–122.

Poulsen, Jens (2013): What about Global History? Dilemmas in the Selection of Content in the School Subject History. In: Education Sciences 3/4 (November). S. 403–420. doi:10.3390/educsci3040403.

Rüsen, Jörn (2008): Historisches Lernen: Grundlage und Paradigmen. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage Aufl. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. (= Forum historisches Lernen).

Schreiber, Waltraud et al. (2006): Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. Neuried: ars una.

Schwabe, Nicole (2020): Geschichtsunterricht de-zentrieren: globale Verflechtungen historisch denken lernen. Bielefeld. [https://pub.uni-bielefeld.de/record/2943282; 23.3.2021].

Sebening, Lena (2021): Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht: empirische Erkundung eines tradierten Begriffs. DoctoralThesis, Hannover: Institutionelles Repositorium der Leibniz Universität Hannover. doi:10.15488/10384. [https://www.repo.uni-hannover.de/handle/123456789/10458; 6.5.2021].