Durch die Brille der Sport-Lehrperson: Handlungsleitende Orientierungsmuster hinsichtlich Geschlecht
Promovend: Raphael Willi
Keywords: Geschlecht, Sportunterricht, Stimulated Recall, Narratives Interview, Dokumentarische Methode
Gutachtende: Prof. Dr. Roland Messmer, Prof. Dr. Uwe Pühse
Projektbeginn: FS 2020
Die Debatte hinsichtlich mono- und koedukativen Sportunterrichts ist oft mit Widersprüchen durchzogen. Insbesondere zeigen sich diese betreffend der Reproduktion und Produktion von Geschlecht, sowie des damit gewünschten Abbaus von Geschlechterdifferenzen (siehe Flintoff & Scraton, 2001; Hannon & Ratliffe, 2007; Mutz & Burrmann, 2014; Sobiech, 2010). Nebst der geschlechtsbezogenen Organisation der Klassen im Sportunterricht spielen in diesem Zusammenhang Sportlehrpersonen eine entscheidende Rolle (Gramespacher, 2007; Hoven, 2017; Metz-Göckel & Roloff, 2002; Kunert-Zier, 2005). Diese Dissertation leistet dabei einen empirischen Beitrag zur sportdidaktischen Forschung bezüglich Doing Gender Prozessen durch die Lehrpersonen im mono- und koedukativen Sportunterricht auf der Sekundarstufe I und II in der Schweiz. Die Arbeit lässt sich in der Unterrichtsforschung verorten und versucht folgende Fragen zu beantworten: 1. Wie produzieren und reproduzieren Lehrpersonen auf der Sekundarstufe I und II Geschlecht im Sportunterricht? 1.1. Welche geschlechtsbezogenen Orientierungsschemata lassen sich identifizieren? 1.2. Welche geschlechtbezogenen Orientierungsrahmungen lassen sich rekonstruieren? 1.3. Welche typologischen Differenzen und Gemeinsamkeiten können von den einzelnen Fällen abstrahiert werden? Die Beantwortung der Forschungsfragen verlangt einen qualitativ-rekonstruktiven Zugang, um Tiefenstrukturen aufdecken zu können. Beim explorativen Vorgehen wurde mit zwei Sportlehrpersonen je ein narratives Pilotinterview à ca. 60 Minuten geführt, transkribiert und mit Memos ergänzt. Anschliessend wurde mit sechs weiteren Sportlehrpersonen intensiv im Feld gearbeitet. Damit wurden die Forschungsdaten durch weitere Fälle verdichtet. Zusätzlich wurde mit Unterrichts-Beobachtungen und -Videoaufzeichnungen, anschliessenden narrativen Interviews, schriftlichen Unterrichtspräparationen und weiteren Memos das Datenmaterial vergrössert. Der Unterricht wurde jeweils mit einer Kamera für die Gesamtperspektive und einer Brillenkamera für die Subjektivperspektive aufgenommen. Die Aufnahmen der Lehrpersonen-Perspektive wurden anschliessend in einem Stimulated Recall (Calderhead, 1981; Gazdag et al., 2019; Messmer, 2015) herangezogen und dienten als fokussierter Ausgangspunkt für die jeweils 60 - 90 Minuten dauernden narrativen Interviews (Schütze, 1983). Bei der Zusammenführung von aktuellen Erfahrungen aus dem unmittelbar beobachteten Unterricht mit den vergangenen Unterrichtserfahrungen der Lehrpersonen kann von einem hohen Erkenntnispotenzial ausgegangen werden (Messmer, 2011). Durch die Analyse mit der Dokumentarischen Methode (Asbrand & Martens, 2018; Bohnsack et al., 2013; Martens et al., 2022; Nohl, 2017) kann hierbei handlungsleitendes Wissen aus dem Datenmaterial herausgearbeitet und sichtbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang geht es nebst explizitem, kommunikativem Wissen, welches auf die Orientierungsschemata verweist, auch um implizite, konjunktive Wissensbestände (Mannheim, 1980), auffindbar in den Strukturen der Narrationen von Erfahrungen, welche auf die milieuspezifischen Orientierungsrahmungen der Sportlehrpersonen verweisen. Diese Analyseergebnisse werden mithilfe Goffmans (1977) Konzeption der Institutional Reflexivity tentativ in Verbindung gebracht, ohne dabei eine Ergebnisoffenheit zu vernachlässigen. Als relevant wird diese Analyse handlungsleitender Orientierungsmuster (Orientierungsschemata und Orientierungsrahmungen) erachtet, da der Lehrperson ein besonderer Stellenwert hinsichtlich des Abbaus bzw. der Aufrechterhaltung von stereotypen Bewegungs- und Verhaltensvorstellungen von Mädchen und Jungen im Kontext der Schule zugeschrieben wird (Mutz & Burrmann, 2014; Sobiech, 2010).
Asbrand, B., & Martens, M. (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Springer.
Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I., & Nohl, A.-M. (2013). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (3., aktualisierte Aufl.). Springer VS. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-19895-8_1
Calderhead, J. (1981). Stimulated recall: A method for research on teaching. British journal of educational psychology, 51(2), 211-217. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.2044-8279.1981.tb02474.x
Flintoff, A., & Scraton, S. (2001). Stepping into Active Leisure? Young Women’s Perceptions of Active Lifestyles and their Experiences of School Physical Education. Sport, Education and Society, 6(1), 5-21.
Gazdag, E., Nagy, K., & Szivák, J. (2019). “I Spy with My Little Eyes.” The use of video stimulated recall methodology in teacher training – The exploration of aims, goals and methodological characteristics of VSR methodology through systematic literature review. International Journal of Education Research, 95, 60-75.
Goffman, E. (1977). The Arrangement between the Sexes. Theory and Society, 4(3), 301-331.
Gramespacher, E. (2007). Gender Mainstreaming in der Schul(sport)entwicklung. Eine Genderanalyse an Schulen. PhD.
Hannon, J. C., & Ratliffe, T. (2007). Opportunities to participate and teacher interactions in coed versus single-gender physical education settings. Physical Educator, 64(1), 11-20.
Hoven, S. (2017). Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht. Eine empirische Analyse zur Genderkompetenz von Sportlehrkräften in der gymnasialen Sekundarstufe I. PhD.
Kunert-Zier, M. (2005). Erziehung der Geschlechter. Entwicklungen, Konzepte und Genderkompetenz in sozialpädagogischen Feldern. VS.
Mannheim, K. (1980). Strukturen des Denkens. Suhrkamp.
Martens, M., Asbrand, B., Buchborn, T., & Menthe, J. (2022). Dokumentarische Unterrichtsforschung in den Fachdidaktiken. Theoretische Grundlagen und Forschungspraxis. Springer.
Messmer, R. (2011). Ordnungen der Alltagserfahrung. Neue Ansätze zum Theorie- Praxisbezug und zur Fallarbeit in der Lehrerbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Messmer, R. (2015). Stimulated Recall als fokussierter Zugang zu Handlungs-und Denkprozessen von Lehrpersonen. Forum: Qualitative Social Research, 16(1).
Metz-Göckel, S., & Roloff, C. (2002). Genderkompetenz als Schlüsselqualifikation. Journal für Hochschuldidaktik, 13(1), 7-10.
Mutz, M., & Burrmann, U. (2014). Sind Mädchen im koedukativen Sportunterricht systematisch benachteiligt? Neue Befunde zu einer alten Debatte. Sportwissenschaft, 44(3), 171-181. https://doi.org/DOI 10.1007/s12662-014-0328-x
Nohl, A.-M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitung für die Forschungspraxis (5. Aufl.). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16080-7
Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 13(3), 283-293.
Sobiech, G. (2010). Gender als Schlüsselqualifikation von (Sport-)Lehrkräften. In N. Fessler, A. Hummel, & G. Stibbe (Hrsg.), Handbuch Schulsport (S. 554 - 569). Hofmann-Verlag.