Wie konstituiert sich die Bewegungswelt im Kindergarten?
Promovend: Raphaël Mathis
Keywords: Bewegungswelt, Kindergarten, Sportunterricht, Fachdidaktik Bewegung und Sport, Unterrichtsgegenstand, Curriculum Making, Ko-Konstruktion, Qualitative Forschung, Narrative Inquiry
Gutachtende: Prof. Dr. Roland Messmer, FHNW, Prof. Dr. Markus Gerber, Universität Basel
Projektbeginn: HS 2024
Theoretische Verordnung
Studien aus anderen Fächern (z.B. TIMMS & TALIS) zeigen, dass die Unterrichtspraxis entscheidend dafür ist, ob, was, wie und wie viel Kinder lernen. In der Schweiz liegen bisher nur wenige Erkenntnisse zur Unterrichtspraxis im Fach Bewegung und Sport vor (z.B. Wittwer et al., 2023; Messmer et al., 2022). Es bleibt unklar, was zur Unterrichtspraxis gemacht wird und wie Unterricht geschieht. Es zeigt sich, dass der Unterrichts- oder Fachgegenstand kontingent und meist nicht lehrplangesteuert ist (Messmer et al., 2022). Freudenberger und Gramespacher (2023) stellen fest, dass sich Lehrpersonen im Kindergarten stärker am Interesse der Kinder als am Lehrplan orientieren. Diese kindzentrierte Ausrichtung berücksichtigt den Entwicklungsstand der 4- bis 8-Jährigen (Walter-Laager & Fasseing Heim, 2002; Largo, 2021) und versteht das Kind als aktives, selbst erkundendes Subjekt mit einem grundlegenden Bewegungsbedürfnis (Voss, 2019; Billmeier & Ziroli, 2014; Nickel, 1990). Was bedeutet das für den Fachgegenstand, und wie geschieht Unterricht, wenn er eine vermeintlich starke Fokussierung auf das individuelle Kind hat und auf einer Kinderwelt basiert, die bereits eine Bewegungswelt ist wie Scherler (1994) formuliert hat?
Der Unterrichtsgegenstand befindet sich in einer Transition vom entwicklungsorientierten Unterricht hin zu einem zunehmend fachlichen Lernen (Zaugg et al., 2021). Die kindliche Eigenaktivität wird dabei als zentrale Triebfeder betrachtet (Lienert et al., 2010; Zimmer, 2019; Bahr et al., 2012). Diese Aktivitäten werden nicht dem Zufall überlassen, sondern im Sinne einer Ko-Konstruktion begleitet (Amberg & Bürgi, 2021).
In der Darstellung des Unterrichtsgegenstands konnten verschiedene Einflussfaktoren beschrieben werden. Unklar bleibt jedoch, was tatsächlich zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird. Diese Forschungslücke soll im geplanten Forschungsprojekt geschlossen werden. Dabei bietet sich der Forschungsdiskurs des Curriculum Making an, der vor allem im angloamerikanischen Raum etabliert ist (Craig & Ross, 2008).
Curriculum Making beschreibt den dynamischen Prozess der Gestaltung und Entwicklung eines Lehrplans, geprägt durch ständige Aushandlungen, Anpassungen und Kontexte (Connelly & Clandinin, 1988). Dabei werden die Akteur:innen als aktive Mitgestaltende des Unterrichts verstanden (Craig, 2011). Durch die Verbindung von Curriculum Making mit den spezifischen Anforderungen der zu untersuchenden Schulstufe lässt sich dieser Ansatz als theoretischer Forschungsrahmen etablieren.
Forschungsfragen
Im Anschluss an den Diskurs um Curriculum Making wird die Unterrichtspraxis im Fach Bewegung und Sport als fachspezifische Ko-Konstruktion verstanden. Diese entsteht durch die Interaktion zwischen Lehrperson, Kindern und Unterrichtsgegenstand.
Hauptfragestellung: Wie konstituiert sich die Bewegungswelt im Kindergarten?
Aus dieser sehr offenen Fragestellung lässt sich ein Fragekorpus ableiten, der im fortschreitenden Prozess weiter spezifiziert wird.
Methode
Das beantragte Forschungsvorhaben untersucht die Konstruktionen der alltäglichen „Kinderwelt: Bewegungswelt“ (Ehni et al., 1982) im Rahmen der freien Aktivität im Kindergarten (vgl. (Walter-Laager & Fasseing Heim, 2002). Ziel ist es zu verstehen, wie der Unterrichtsgegenstand von Kindern und Lehrpersonen gemeinsam gestaltet wird. Dazu wird ein qualitativer Forschungsansatz gewählt, der auf der Methode der Narrative Inquiry basiert (Wei, 2023). Die Datenerhebung erfolgt direkt im Feld während der freien Aktivität von Kindergartenkindern. Die Beobachtungen werden in Form von Feldnotizen dokumentiert (Texte, Fotos, Gespräche etc.) und zu Narrativen (Geschichten) verdichtet, die in Interviewsituationen mit Kindern und Lehrpersonen validiert werden. Zur Unterstützung der Narration werden visuelle Hilfsmittel wie Fotos oder Illustrationen eingesetzt, um den Kindern das Verfolgen der Geschichten zu erleichtern und neue Impulse zu geben (Hunger et al., 2019). Im Rahmen der Ko-Konstruktion präzisieren Kinder und Lehrpersonen ihre Geschichten, um die freie Aktivität besser zu verstehen. Die erweiterten Feldnotizen werden anschliessend zu Feldtexten verarbeitet und mithilfe des three-dimensional narrative inquiry space (Clandinin & Connelly, 2004) zu Interim-Forschungstexten verdichtet. Pro Bildungsort entsteht so ein narrativer Bericht, der im nächsten Schritt verglichen wird, um narrativübergreifende Erzählstränge (Cross Narrative Account Threads) sichtbar zu machen (Clandinin et al., 2013).
Für die Fallauswahl wird eine maximale Kontrastierung angestrebt (Nohl, 2017), die dem Konzept des Theoretical Sampling folgt und an Strauss (1998) anknüpft. Die abschliessende Transformation der Daten umfasst den Übergang vom Feldtext zum Forschungstext. Dabei werden zentrale Fragen nach der Rechtfertigung (Why?), den Phänomenen (What?) und der Methode (How?) an das Material herangetragen. Durch die soziale und theoretische Kontextualisierung wird schliesslich eine Annäherung an die Antworten des definierten Fragekomplexes angestrebt.
Erwarteter Gewinn
Mit dem skizzierten Forschungsvorhaben wird angestrebt, mehr über den Unterrichtgegenstand im Fach Bewegung und Sport im Zyklus 1 zu erfahren. Durch die Rekonstruktion von Unterricht sollen fachspezifische Erkenntnisse zum Unterrichtgegenstand gewonnen werden. Durch das Datenmaterial, das direkt aus dem Feld abgeleitet und in einem ko-konstruktiven Prozess verdichtet wird, sollen Erkenntnisse zum lernenden Kind sowie zum Unterrichtsgegenstand gewonnen werden. Damit wird der Forderung von Voss (2019) nachgekommen, dass Bewegungsförderung für Kinder in diesem Alter aus bildungspolitischer Sicht notwendig ist und empirische Daten benötigt. Im Rahmen des geplanten Vorhabens soll der grundsätzlichen Verpflichtung nachgekommen werden, dass Bildung evidenzbasiert sein muss.
Literatur
Amberg, L., & Bürgi, L. (2021). Spielen lehren an der Pädagogischen Hochschule - Überlegungen zum Aufbau spielpädagogischer Kompetenzen in der Ausbildung von Lehrpersonen der Eingangsstufe. In A. Zaugg, P. Chiavaro-Jörg, T. Dütsch, L. Amberg, K. L. Fasseing Heim, Ruth, C. Streit, & E. Wannack (Eds.), Individualisierung im Spannungsfeld von Instruktion und Konstruktion: Kompetenzförderung durch spielbasiertes Lernen bei vier- bis achtjährigen Kindern (pp. 51-76). Waxmann Verlag.
Bahr, S., Kallinich, K., Beudels, W., Fischer, K., Hölter, G., Jasmund, C., Krus, A., & Kuhlenkamp, S. (2012). Bedeutungsfelder der Bewegung für Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Kindesalter. motorik, 35(3), 98–109.
Billmeier, U., & Ziroli, S. (2014). Bewegungsbildung in der frühen Kindheit. Zur Begleitung und Gestaltung von Bewegungssituationen. In D. Kucharz, K. Mackowiak, S. Ziroli, A. Kauertz, E. Rathgeb-Schnierer, & M. Dieck (Eds.), Professionelles Handeln im Elementarbereich (PRIMEL) (pp. 123-144). Waxmann.
Clandinin, D. J., & Connelly, F. M. (2004). Narrative Inquiry: Experience and Story in Qualitative Research. John Wiley & Sons.
Clandinin, D. J., Steeves, P., & Caine, V. (2013). Composing Lives in Transition: A Narrative Inquiry into the Experiences of Early School Leavers. Emerald Group Publishing.
Connelly, F. M., & Clandinin, D. J. (1988). Teachers as Curriculum Makers. Teachers College Press.
Craig, C. J. (2011). Narrative inquiry in teaching and teacher education. In J. Kitchen, P. Ciuffetelli, & P. Debbie (Eds.), Advances in Research on Teaching: Narrative Inquiries into Curriculum Making in Teacher Education (pp. 19-42). Emerald Group Publishing Limited. https://doi.org/10.1108/s1479-3687(2011)00000130005
Craig, C. J., & Ross, V. (2008). Cultivating the Image of Teachers as Curriculum Makers. In The SAGE Handbook of Curriculum and Instruction (pp. 282-305). SAGE Publications, Inc. https://doi.org/10.4135/9781412976572.n14
Dewey, J. (1988). Experience and Education. In The Later Works, 1925-1953 Vol. 13: 1938-1939. Southern Illinois University Press.
Ehni, H., Kretschmer, J., Nimtsch, B., Scherler, K., & Weichert, W. (1982). Kinderwelt: Bewegungswelt. Friedrich Verlag.
Freudenberger, K., & Gramespacher, E. (2023). Eine Frage der Haltung?! Überzeugungen von schweizerischen Kindergarten-Lehrpersonen zu Bewegung und Sport. sportunterricht, Schwerpunkt: Bewegung, Spiel und Sport im Übergang Elementarbereich-Primarbereich, 72(4), 151–155. https://doi.org/10.30426/SU-2023-04-2
Hunger, I., Zander, B., Zweigert, M., & Schwark, C. P. (2019). Impulsinterviews mit Kindern im Kindergartenalter – praktische Entwicklung und methodologische Einordnung einer Datenerhebungsmethode. In F. Hartnack (Ed.), Qualitative Forschung mit Kindern (pp. 169-192). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24564-1_6
Largo, R. H. (2021). Kinderjahre: Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper.
Lienert, S., Sägesser, J., & Spiess, H. (2010). Bewegt und selbstsicher: Psychomotorik und Bewegungsförderung in der Eingangsstufe: Grundlagen und Unterrichtspraxis. Schulverlag plus.
Messmer, R., Brühwiler, C., Gogoll, A., Büchel, S., Vogler, J., Kruse, F., Wittwer, M., Steinberg, M., & Nadenbousch, A. (2022). Wissen und Können bei Lehrpersonen und Lernenden im Sportunterricht. Zum Design und zur Modellierung von Schüler*innen und Lehrer*innenkompetenzen. In Narrative zwischen Wissen und Können (pp. 209-232). Academia – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft. https://doi.org/10.5771/9783985720118-209
Nickel, U. (1990). Kinder brauchen ihren Sport. Pohl.
Nohl, A.-M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode: Anleitungen für die Forschungspraxis. Springer-Verlag.
Scherler, K. (1994). Kinderwelt - Bewegungswelt. In R. Zimmer & H. Cicurs (Eds.), Kinder brauchen Bewegung - brauchen Kinder Sport? (pp. 32-37).
Strauss, A. L. (1998). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Wilhelm Fink Verlag.
Voss, A. (2019). Sport- und bewegungsbezogene Pädagogik der frühen Kindheit - eine Bestandesaufnahme. In A. Voss (Ed.), Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik: ein Handbuch (pp. 17-36). Kohlhammer.
Walter-Laager, C., & Fasseing Heim, K. (2002). Kindergarten: Grundlagen aktueller Kindergartendidaktik. ProKiga.
Wei, L. (2023). Narrative Inquiry: A Research Method in the Education Field. World Journal of Education, 13(6), 35. https://doi.org/10.5430/wje.v13n6p35
Wittwer, M., Messmer, R., & Büchel, S. (2023). Fachspezifisches professionelles Wissen und Können von Sportlehrpersonen. Swiss Journal of Educational Research, 45(2), 124–137. https://doi.org/10.24452/sjer.45.2.4
Zaugg, A., Chiavaro-Jörg, P., & Dütsch, T. (2021). Individualisierung im Spannungsfeld von Instruktion und Konstruktion. Eine Einführung. In A. Zaugg, P. Chiavaro-Jörg, T. Dütsch, L. Amberg, K. L. Fasseing Heim, Ruth, C. Streit, & E. Wannack (Eds.), Individualisierung im Spannungsfeld von Instruktion und Konstruktion: Kompetenzförderung durch spielbasiertes Lernen bei vier- bis achtjährigen Kindern (pp. 7-14). Waxmann Verlag.
Zimmer, R. (2019). Bewegungserziehung - pädagogische und didaktische Grundlagen. In A. Voss (Ed.), Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik (pp. 37-48). Kohlhammer.