Promovendin: Rahel Zimmerli-Graber
Keywords: Lernprozesse (motorische, taktische und gestalterische), Lernen, Sportunterricht, Schüler:innensicht, Tiefenstruktur, Narrative Inquiry, Curriculum Making, Ko-Konstruktion, Wissen und Können, Video-Stimulated Recall
Gutachtende: Prof. Dr. Roland Messmer, FHNW; Prof. Dr. Markus Gerber, Universität Basel
Projektbeginn: HS 2023

 

Theoretische Verankerung

Unterricht als langfristig organisierte Abfolge von Lehr- und Lernsituationen (Lipowsky, 2020) stellt die Aktivierung von Lernprozessen der Schüler:innen ins Zentrum. Lernprozesse sind damit auch ein wichtiger Aspekt der Unterrichtsforschung. Die tiefenstrukturelle Ebene (Oser & Patry, 1994) verspricht Einblicke in Lernprozesse von Schüler:innen. In der sportdidaktischen Forschung fehlt bis anhin die Betrachtung der Schüler:innen bezogen auf unterschiedliche Kompetenzbereiche. Bei sportdidaktischen Untersuchungen, welche Lernprozesse im Sportunterricht qualitativ erforschten, z.B. die Choreografien des Lernens und Lehrens im Sportunterricht (Jeisy, 2014) oder das Verhältnis von Aktivierung und Aktivität im Rahmen von Adaption (Wibowo, 2021), steht der Zusammenhang zwischen dem Handeln von Lehrpersonen und demjenigen von Schüler:innen, mit Fokus auf die Struktur des Lehrpersonenhandelns, im Zentrum. Allerdings kann, wie die Untersuchung von Schönfeld (2021) zur kognitiven Aktivität von Schüler:innen beim Lösen von Aufgaben zeigte, nicht vom Lehrpersonenhandeln auf die tatsächliche kognitive Aktivität (welche sich auf Lernprozesse stützt) bei Schüler:innen geschlossen werden. In der geplanten Untersuchung sollen deshalb Lernprozesse im Sportunterricht aus der Schüler:innenperspektive betrachtet werden.

Im Projekt soll in die Praxis selbst eintaucht werden und Erkenntnisse aus der Komplexität des Unterrichts gewonnen werden (vgl. Miethling & Krieger, 2004). Eine Forschungslücke, welche mit dem beabsichtigten Dissertationsvorhaben untersucht werden soll, besteht darin, Lernprozesse in unterschiedlichen Kompetenzbereichen (motorische, taktische und gestalterische Lernprozesse, nicht lediglich auf Bewegungslernen ausgerichtete) im Sportunterricht (nicht im Leistungssport) empirisch zu erforschen. Lernprozesse werden verstanden als Vorgänge, bei welchen sich Schüler:innen im Sportunterricht Wissen aneignen und Können entwickeln – Können verstanden als Handlungsfähigkeit im Sinne von functionings und capabilities (Nussbaum, 2011). Dabei gilt es in Anlehnung an Vygotsky (1987) die Zone der nächsten Entwicklung der Schüler:innen zu beachten.

Für den Sportunterricht konstitutiv ist, dass Lernprozesse durch Erfahrung in konkreten Situationen stattfinden. Die Narrative Inquiry (Clandinin, 2023; Messmer et al., 2023) beansprucht, durch die Dimensionen temporality, place und sociality, die narrative Konzeption von Erfahrung zu erfassen. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht ausschliesslich auf den Erfahrungen eines Individuums, sondern auch auf den sozialen, kulturellen und institutionellen Erzählungen, welche einem Individuum innewohnen (Clandinin, 2023, p. 12). Hier kann die theoretische Verortung des Forschungsdesiderates im Diskurs um Curriculum Making (Craig & Ross, 2008) als geeignet angesehen werden, weil dieser Diskurs unterschiedliche Gesichtspunkte wie milieu, teachers, learners und subject matter (Craig, 2020) als Curriculum Makers sieht. Der narrative Zugang stellt eine weitere Forschungslücke dar, welche mit dem Dissertationsprojekt adressiert werden soll. Die Komplexität der Unterrichtspraxis kann unter der Perspektive des Curriculum Makings (nicht zu verwechseln mit dem deutschen Begriff Curriculum) in Geschichten erfasst werden. Schüler:innen können als Curriculum Makers, im Sinne einer Ko-Konstruktion gesehen werden. Curriculum Making als theoretische Rahmung hilft zu untersuchen, welche Auswirkungen diese letztendlich auf die Lernprozesse der Schüler:innen hat. Das Ziel ist es, Lernprozesse im Sportunterricht, in der Tiefenstruktur und aus der Komplexität der Unterrichtspraxis heraus, aus Schüler:innensicht zu erforschen.

Forschungsfragen

Die Forschungsfragen sind in die dargelegten Überlegungen zu Lernprozessen eingebettet. Anknüpfend an die Forschungslücken, soll die Schüler:innensicht aus unterschiedlichen Kompetenzbereichen im Diskurs um Currciculum Making als Geschichten rekonstruktiv erforscht werden.

1.   Welche Lernprozesse, in der Auseinandersetzung der Schüler:innen mit den Inhalten, Zielen und Aufgaben des Sportunterrichts, können aus mikrodidaktischer Perspektive (Meyer, 2020) rekonstruiert werden?

2.   Welche Muster von Lernprozessen im Sportunterricht können aus der Perspektive der Schüler:innen identifiziert werden?

Methodischer Zugang

Der methodische Zugang bildet die Narrative Inquiry (Clandinin, 2023; Messmer et al., 2023). Für die Datenerhebung im Unterricht hat sich die Videografie bewährt, da so die Komplexität von Unterricht erfasst werden kann und anschliessende Analysen möglich sind (Janík et al., 2009). Die Videodaten werden mittels Brillenkameras bei Schüler:innen und Lehrpersonen sowie mindestens einer weiteren Kamera für die Gesamtperspektive erhoben. Es ist vorgesehen, aus ca. fünf Schulklassen jeweils die Perspektive von vier Schüler:innen (allenfalls mehrmals) videografisch zu erfassen. Weil Lernprozesse in ihrer Tiefenstruktur nicht unbedingt von aussen sichtbar sind, wird ein Video-Stimulated Recall (Calderhead, 1981; Messmer, 2015) durchgeführt. Geplant ist, Schüler:innen der Sekundarstufe I (unterschiedlicher Niveaus) der Deutschschweiz einzubeziehen.

Erwarteter Gewinn der Arbeit

Das Verstehen von Lernprozessen aus Schüler:innensicht steht im Zentrum. Durch die Untersuchung und Rekonstruktion von Lernprozessen im Sportunterricht sollen fachspezifische Erkenntnisse zum Lernen gewonnen werden. Weil die erfassten Geschichten der Unterrichtspraxis direkt aus Erkenntnissen aus der Praxis selbst hervorgehen, sind sie für eine kompetenzorientierte und lernwirksame Weiterentwicklung des Schulfachs zentral. Zudem ermöglichen sie eine fachspezifische Herausbildung der Qualitätsmerkmale von Sportunterricht, die bislang meist auf Übernahmen aus anderen Fächern beruhen.

Literatur

Calderhead, J. (1981). Stimulated recall: A method for research on teaching. British Journal of Educational Psychology, 51(2), 211-217. https://doi.org/10.1111/j.2044-8279.1981.tb02474.x

Clandinin, D. J. (2023). Engaging in Narrative Inquiry (2nd edition). Routledge. https://doi.org/10.4324/9781003240143

Craig, C. J. (2020). Curriculum Making, Reciprocal Learning, and the Best-Loved Self. Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-030-60101-0

Craig, C. J., & Ross, V. (2008). Cultivating the Image of Teachers as Curriculum Makers. In F. M. Connelly, M. F. He, & J. Phillion (Eds.), The SAGE Handbook of Curriculum and Instruction (pp. 282-305). SAGE Publications.

Hossner, E.-J., & Künzell, S. (2022). Einführung in die Bewegungswissenschaft. Limpert.

Janík, T., Seidel, T., & Najvar, P. (2009). Introduction: On the power of video studies in investigating teaching and learning. In T. Janík & T. Seidel (Eds.), The power of video studies in investigating teaching and learning in the classroom (pp. 7-19). Waxmann.

Jeisy, E. (2014). Choreografien des Lernens und Lehrens im Fachbereich Bewegung und Sport. Meyer & Meyer.

Lipowsky, F. (2020). Unterricht. In E. Wild & J. Möller (Eds.), Pädagogische Psychologie (2nd, revised and updated ed., pp. 69-118). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61403-7_4

Messmer, R., Schönfeld, K., & Vogler, J. (2023). Narrative Matters – Narrative Inquiry als Forschungsmethode und Forschungshabitus. In B. Zander, D. Rode, D. Schiller, & D. Wolff (Eds.), Qualitatives Forschen in der Sportpädagogik. Beiträge zu einer reflexiven Methodologie (pp. 309-331). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38038-0_14

Messmer, R. (2015). Stimulated Recall als fokussierter Zugang zu Handlungs- und Denkprozessen von Lehrpersonen. Forum Qualitative Sozialforschung, 16(1). http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/article/view/2051/3732

Meyer, H. (2020). Was ist guter Unterricht? (15. Auflage). Cornelsen.

Miethling, W.-D., & Krieger, C. (2004). Schüler im Sportunterricht: Die Rekonstruktion relevanter Themen und Situationen des Sportunterrichts aus Schülersicht (RETHESIS). Hofmann.

Nussbaum, M. C. (2011). Creating Capabilities. Harvard University Press.

Oser, F., & Patry, J.-L. (1994). Sichtstruktur und Basismodelle des Unterrichts: Über den Zusammenhang von Lehren und Lernen unter dem Gesichtspunkt psychologischer Lernverläufe. In R. Olechowski & B.  Rollett (Eds.), Theorie und Praxis. Aspekte empirisch-pädagogischer Forschung – quantitative und qualitative Methoden (pp. 138-146). Peter Lang.

Schönfeld, K. (2021). Kognitive Aktivität im Sportunterricht: Eine empirische Untersuchung zu den Denkprozessen von Schüler*innen der Sekundarstufe I beim Lösen von Aufgaben. Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35944-7

Vygotsky, L. S. (1987). Ausgewählte Schriften. Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Pahl-Rugenstein.

Wibowo, J. (2021). Zum Verhältnis von Aktivität, Aktivierung und Adaption am Beispiel von Problemlöseprozessen im Sportunterricht. In J. Wibowo, C. Krieger, E. Gerlach, & F. Bükers (Eds.), Aktivierung im Sportunterricht (2nd, revised and supplemented ed., pp. 93-107). Universität Hamburg. https://doi.org/10.25592/AktivierungImSU