Performanzen historischer Orientierung(en) von Schülerinnen und Schülern beim Schreiben in Geschichte
Promovendin: Kristin Gollin
Keywords: Fachdidaktik Geschichte, Orientierung, Schreiben
Gutachtende: Prof. Dr. Monika Waldis; Prof. Dr. Martin Lengwiler
Projektbeginn:: HS 2019
Abstract
Unstrittig ist in der geschichtsdidaktischen Forschung, dass der Umgang mit Geschichte eine Relevanz für das Denken und Handeln von Menschen hat. Dabei spielen diverse Konzepte wie Orientierung, Werturteilsbildung, Relevanz etc. eine Rolle, ohne dass theoretische Bezüge und die Verhältnisse der Konzepte zueinander bisher geklärt sind, auch empirische Arbeiten dazu sind kaum vorhanden. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, das Konzept der historischen Orientierung kategorial zu konturieren und anschliessend Performanzen historischer Orientierungen sichtbar zu machen.
Theoretische Verankerung In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik werden historische Orientierung und Werturteilsbildung theoretisch nicht trennscharf unterschieden (Borries, 2015). Ein gewisser Konsens besteht darin, dass historisches Denken der zeitbezogenen Orientierung dient, um in Gegenwart mit Blick auf Zukunft zu handeln (z. B. Bergmann, 1998; Körber, Schreiber & Schöner, 2007; Kuhn, 1974; Rüsen, 2008). Gemäss Rüsen (2008) erfolgt Orientierung, wenn «handelnde Subjekte sich selbst, ihre Subjektivität als Deutungsleistung im Umgang mit der Welt, mit anderen und mit sich selbst ins Spiel bringen müssen, um absichtsvoll handeln (und ihr Leiden bewältigen) zu können.» Anknüpfend versteht die FUER-Gruppe (Körber et al., 2007) historisches Orientieren als eine Kompetenz historischen Denkens, die dazu diene, historische «Erkenntnisse und Einsichten», «auf die eigene Person und Lebenswelt bzw. die eigene Weltsicht zu beziehen». In einigen Kompetenzmodellen steht anstelle des Konzepts der Orientierung (Bracke et al., 2018) oder integriert in dieses (Gautschi, 2009) der Begriff des Werturteils. Bracke et al. beziehen sich dabei auf Jeismann (z. B. 2000), welcher die Bildung eines historischen Werturteils als „die Herstellung einer Beziehung zwischen dem historischen Faktum und seiner geschichtlichen Bedeutung einerseits, einer persönlichen oder sozialen Betroffenheit andererseits» definiert. In der englischsprachigen Forschung gelten ähnliche Konzepte wie «historical significance» «historical relevance» oder «ethical dimension» als Teil historischen Denkens (van Boxtel & van Drie, 2018; z. B. Seixas & Morton, 2013; van Straaten, Wilschut & Oostdam, 2016).
Empirisch ist der Bereich der Orientierung nur von Trautwein et al. (2017) im Rahmen der Validierung des HiTCH-Tests adressiert worden. Allerdings weisen Körber und Meyer-Hamme (2017) darauf hin, dass das individuelle historische Orientieren mit diesem Instrument nicht erfasst wer-den konnte. Daneben liegen lediglich Überlegungen hinsichtlich geeigneter Aufgaben oder Items vor (Bräuer & Schreiber, 2016; Körber & Meyer-Hamme, 2017). Empirisch gezeigt werden konnte indes, dass offene, materialbasierte historische Schreibaufgaben eine gute Möglichkeit bieten, um Schülerinnen und Schüler zum Historischen Denken anzuregen (vgl. z. B. Van Drie, Braaks-ma, und van Boxtel 2015). Für die Werturteilsbildung existieren ebenfalls nur wenige Studien: Schönemann et al. (Schönemann, Thünemann & Zülsdorf-Kersting, 2011) kommen in ihrer Analyse von deutschen Abiturprüfungen zum Schluss, dass historische Werturteile selten vorkommen und nicht plausibel hergeleitet wurden. Hodel et al. (2013) unterstreichen diesen Befund und machen zudem auf die Themengebundenheit der Werturteilsqualität aufmerksam. Englischsprachige Studien (Lévesque, 2005; VanSledright & Limón, 2006) und eine österreichisch-kanadische Vergleichsstudie (Ammerer & Seixas, 2015) zur «historical significance» untersuchten mittels Rating von vergangenen Aspekten, wie Lernende historische Ereignisse auswählen. Van Straaten et al. (2018) haben einen Fragebogen entwickelt, mit dem sie die Beliefs von Studierenden bezüglich der Relevanz von Geschichte messen.
Zusammenfassend möchte ich hervorheben, dass zwar einige theoretische Ansätze vorliegen, um historische Orientierung zu konturieren. Diese setzen jedoch unterschiedliche Akzente und es bleibt offen, inwiefern sie kompatibel sind. Ausserdem sind Überlegungen zu Erhebungsformaten sowie empirische Befunde kaum vorhanden.
Fragestellung
Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Fragen:
1. Wie lässt sich das Konzept der historischen Orientierung kategorial so konturieren, dass sich historische Orientierungen von Lernenden untersuchen lassen?
2. Welche Performanzen historischer Orientierungen können in den Daten sichtbar gemacht werden?
3. Welche Narrative prägen die Sichtweise der Lernenden auf das Thema der Schreibaufgabe, resp. wie gehen sie mit dem Masternarrativ «Schweizer Neutralität» um?
Materialgrundlage und Methoden Um diese Fragen zu adressieren, untersuche ich Texte und Interviewaussagen, die auf der Grundlage von offenen, materialbasierten Schreibaufgaben in «Cognitive Labs» mit 20 Deutschschweizer Proband*innen der Klassenstufen 9-11 im Rahmen der vom SNF finanzierten Interventionsstudie «Schülerinnen und Schüler schreiben Geschichte» entstanden sind. Ergänzend werden weitere Texte aus den Eingangs- und Schlusserhebungen der Interventionsstudie hinzugezogen. Die Schreibaufgabe zum Thema «Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg» wurde nicht spezifisch als Orientierungsaufgabe entwickelt, sie bietet aber Orientierungsgelegenheiten, v.a. im Umgang mit dem Narrativ der Schweizer Neutralität und ist damit geeignet, um mögliche Operationen in diesem Bereich zu eruieren und analysieren. In den «Cognitive Labs» wurde ein teilstrukturiertes Verfahren angewandt. Zur Erhebung der Denkprozesse während des Erstkontaktes mit den historischen Materialien wurde die Methode des Lauten Denkens eingesetzt (Konrad, 2010). Die Schreibprozesse wurden durch «cognitive interviewing» im Anschluss an die Textproduktion erhoben (Beatty & Willis, 2007). Die Auswertung der Daten erfolgt mittels strukturierender Verfahren als auch induktiver Kategorienbildung der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2010).
Literatur
Beatty, Paul C., und Gordon B. Willis. 2007. «Research Synthesis: The Practice of Cognitive Interviewing». Public Opinion Quarterly 71 (2): 287–311. https://doi.org/10.1093/poq/nfm006.
Borries, Bodo von. 2015. «‹Subjektorientiertes› Geschichtslernen ist nur als ‹identitätsreflektie-rendes› wünschenswert!» In Subjektorientierte Geschichtsdidaktik, herausgegeben von Heinrich Ammerer, Thomas Hellmuth, und Christoph Kühberger, 93–130. Schwalbach /Ts.: Wochen-schau.
Bräuer, Benjamin, und Waltraud Schreiber. 2016. «Orientierungsgelegenheiten. Theoriebildung für gemeinsames Geschichtslernen in inklusiven Klassen». In Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, herausgegeben von Christoph Kühberger und Robert Schneider, 85–102. Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
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Trautwein, Ulrich, Christiane Bertram, Bodo von Borries, Nicola Brauch, Matthias Hirsch, Kathrin Schröter, Kathrin Klausmeier, u. a. 2017. Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzep-tion, Operationalisierung und Befunde des Projekts «Historical Thinking Competencies in History (HiTCH)». Münster: Waxmann.
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