Ausprägungen historischen Fragens und Ansätze zu deren Diagnose

Promovend: Jonas Schobinger
Keywords: historisches Fragen, narrative Kompetenz, historisches Denken
Gutachtende: Prof. Dr. Monika Waldis, Prof. Dr. Martin Lengwiler
Projektbeginn: HS 2022

 

Relevanz der Arbeit
Historisches Fragen gilt als bedeutsam für den Umgang mit Geschichte(n), da es in vorliegenden geschichtsdidaktischen Konzepten als Schlüsselmoment historischen Denkens fungiert (z.B. Bracke et al., 2018; Körber et al., 2007, Nitsche & Waldis, 2016; Van Drie & Van Boxtel, 2008). Demnach soll historische Fragekompetenz im Geschichtsunterricht und an ausserschulischen Lernorten zu Geschichte gefördert werden. Allerdings ist bislang wenig bekannt, wie diese Kompetenz bei Lernenden diagnostiziert und gefördert werden kann. Das im Folgenden skizzierte Dissertationsprojekt hat zum Ziel, eine derart verstandene Fähigkeit des historischen Fragens theoretisch zu fundieren.


Forschungsstand
Gängige geschichtsdidaktische Modelle historischen Denkens umfassen Dimensionen wie historische Wahrnehmungs- oder Fragekompetenz, historische Methodenkompetenz und historische Orientierungskompetenz (Gautschi, 2015; Körber et al., 2007; Nitsche & Waldis, 2016; Nitsche & Gollin, 2020). Die Dissertation knüpft an das FUER-Modell (Körber et al., 2007) sowie an das daran angelehnte Modell narrativer Kompetenz an (Nitsche & Waldis, 2016; Nitsche & Gollin, 2020). Narrative Kompetenz gilt darin als Vermögen historischen Denkens, das genutzt wird, um gegenwärtigen Herausforderungen (z.B. individuell oder gesellschaftliche Probleme, schulische Anforderungssituationen) unter Rückgriff auf Quellen und Darstellungen verstehen und reflektieren zu können und gegebenenfalls Schlüsse für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln abzuleiten. Im vorliegenden Projekt werden die im FUER-Modell definierten Kompetenzen in Anlehnung an die Activity Theory (Engeström, 1999) als Operationen verstanden und in Teiloperationen wie historisches Fragen oder Quellen kontextualisieren unterschieden, die während des historischen Denkens genutzt werden, um „diverse Formen historischer Narrationen zu entfalten oder diese nachzuvollziehen“. Dabei werden „historische Narration(en) als Oberbegriff aller […] Formen der Geschichtsschreibung“ verstanden, „da die Konstruktion und das Verständnis derselben die Narrativität des Kontextes sowie des Wissens“ voraussetzt (Nitsche & Gollin, 2020, S. 315).
Bisherige empirische Studien zur historischen Fragekompetenz untersuchten etwa, welche historischen Fragearten unterschieden werden können (z.B. Van Drie & Van Boxtel, 2008; Logtenberg, 2012) und inwiefern diese von Schüler*innen formuliert werden können (z.B. Logtenberg, 2012). Des Weiteren wurde untersucht, was Auslöser für Frageprozesse sind bzw. welche Faktoren und Voraussetzungen historische Frageprozesse befördern (z.B. Logtenberg, 2012). Noch wenig ist über die Teiloperationen historischen Fragens und den Gesamtprozess der Konstruktion historischer Fragen bekannt. Ebenso bestehen kaum Einsichten dazu, inwiefern sich die Qualität der (Teil)Operation(en) differenzieren lässt. Somit ist es bisher kaum möglich, die Entwicklung historischen Fragens differenziert zu beschreiben und diesbezügliche Lernprozesse systematisch zu fördern. Zudem ist offen, welche Rolle die Qualität historischen Fragens bzw. die Gestalt des Frageprozesses während der Auseinandersetzung mit historischen Quellen und Darstellungen für die Reflexion von Geschichtsbildern und Narrationen spielen. Erwartet werden Unterschiede in Abhängigkeit zur Expertise der untersuchten Personen. So ist u.a. aus den Studien Wineburgs (1991) bekannt, dass Schüler*innen beim Erschliessen historischer Materialien ihr Vorgehen und ihre Zugänge zu historischen Materialien weniger hinterfragen als Experten. Aus diesem Grund werden im vorliegenden Projekt verschiedene Personengruppen untersucht.


Forschungsfragen

  • Wie wird historisches Fragen bzw. historische Fragekompetenz bisher theoretisch konzipiert und empirisch begründet? Inwiefern lässt sich das Konstrukt aufgrund der vorhandenen bildungswissenschaftlichen, geschichtstheoretischen und -didaktischen Literatur im Vergleich zu allgemeinen Fragen oder Fragen anderer Domänen charakterisieren / definieren?
  • Welche Teiloperationen historischen Fragen lassen sich empirisch unterscheiden, wenn Personen unterschiedlicher Expertise anhand von Quellen und Darstellungen zur Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg zur Entwicklung einer historischen Frage aufgefordert werden?
  • Inwiefern können Typen der Qualität von Teiloperationen historischen Fragens oder des Gesamtprozesses der Frageerstellung anhand von Qualitätskriterien (z.B. Struktur, Komplexität) zwischen den Personengruppen diverser Expertise oder gruppenübergreifend differenziert werden? Inwiefern lässt sich anhand des Forschungsstandes und aufgrund der empirischen Typenbildung eine Progressionslogik historischen Fragens begründen?

 

Methode
Die für die Beantwortung der Forschungsfragen benötigten Daten werden im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projektes RicH (Research of Learning Processes in History) vor allem mittels der Methode des lauten Denkens erhoben (Thyroff, 2021). Im Rahmen des Projektes werden verschiedene historische Denk- und Lernprozesse erforscht. Dabei wird das Vorgehen der Proband*innen mit unterschiedlicher Expertise (z.B. akademische und ausserakademische Historiker*innen, Studierende, Freizeithistoriker*innen, Schüler*innen) beim Bearbeiten einer Geschichtsaufgabe zur Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg im Kontext einer digitalen Umgebung (Switchdrive, Webex) analysiert. Das Herausarbeiten einer historischen Fragestellung steht hierbei im Fokus des ersten Erhebungstermins. Die Analysen der Laut-Denk-Protokolle zielen auf die Kategorisierung von Teiloperationen, die Herausarbeitung von Typen und die Graduierung der Fragekompetenz. Beim zweiten Erhebungstermin wird die ausgearbeitete Frage schriftlich beantwortet. Diese Textprodukte werden es erlauben, die Verbindung zwischen Fragenqualität und Textqualität herzustellen.

 

Literatur (Auswahl)

  • Engeström 1999: Lernen durch Expansion. Marburg.
  • Körber et al. 2007: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Struktur-Modell. Neuried.
  • Logtenberg 2012: Questioning the past: student questioning and historical reasoning. Amsterdam.
  • Nitsche & Gollin 2020: Zeitlichkeit und narrative Kompetenz – zur kategorialen Erfassung des Umgangs mit Zeit, in: Bernhardt & Thyroff 2021: Lautes Denken, in: Weisseno & Ziegler (Hrsg.): Handbuch Geschichts- und Politikdidaktik. Wiesbaden.
  • Wineburg 1991: Historical Problem solving. Journal of Educational Psychology 83, 1, S. 73-87.
  • Van Drie & Van Boxtel 2008: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students‘ Reasoning about the Past. Educational Psychology Review 20, 2, S. 87-110.