Soziale Argumente bei der Expansion der Sekundarstufe II in den Kantonen Thurgau und Basel-Stadt von 1960 bis 1980.
Promovendin: Daniela Duthaler
Keywords: Bildungsexpansion, soziale Argumente, Chancengleichheit, Sekundarstufe II, Berufsbildung, Allgemeinbildung, Bildungsübergänge, Demokratisierung, Thurgau, Basel-Stadt, Bildungsgeschichte
Gutachtende: Prof. Dr. Martin Lengwiler, Prof. Dr. Patrick Bühler, Prof. Dr. Philipp Eigenmann
Projektbeginn: FS 2025
Gegenstand des Dissertationsprojekts und theoretische Verankerung
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die westliche Welt einen Wirtschaftsboom, der eine Verschiebung der Wirtschaftsstruktur und eine erhöhte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften zur Folge hatte. In der Schweiz reagierte das Bildungssystem darauf mit einer Expansion der Sekundarstufe II (SEK II) (Gymnasien, duale Lehre, Berufsausbildung in Vollzeitschulen, Pädagogische Seminare und Fachmittelschulen, usw.). Diese Expansion wurde ab den 1960er Jahren neben wirtschaftlichen Argumentationslinien zunehmend auch sozialpolitisch diskutiert («Chancengleichheit». «Demokratisierung der Bildung») (Hess et al., 1966; Lamprecht & Stamm, 1996).
Mein Forschungsvorhaben baut auf bestehenden Arbeiten zur Geschichte der Schweizer Allgemein- und Berufsbildung der SEK II auf (Bauder & Osterwalder, 2008; Berner & Bonoli, 2019; Bonoli & Eigenmann, 2021; Criblez, 2001, 2002, 2008; Gonon, 2010). Die Expansion wird oft als Mittel zur wirtschaftlichen Nachwuchsförderung und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit erklärt. Eine Analyse des Ausbaus der SEK II zwischen 1960 und 1980 mit dem Fokus auf sozialpolitische Argumente fehlt jedoch bisher. Ziel dieser Arbeit ist es, zunächst die Entwicklung bzw. den Ausbau der Berufs- und Allgemeinbildung in den beiden Kantonen zu rekonstruieren, um daran anschliessend zu fragen, welche sozialpolitischen Argumente von welchen Akteuren verwendet wurden und welche Personengruppen von den erweiterten Bildungsangeboten profitieren sollten. Dies ist wichtig, um Begründungsmuster zu differenzieren und eine mögliche Zirkulation von Argumenten aufzuzeigen, was auch zum heutigen Verständnis von Begriffen wie «Chancengleichheit» beitragen kann.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, welche Akteure (EDK, Verband Gymnasiallehrer, Gewerbeverbände, Expertenkommissionen, Interessensverbände) die kantonale Bildungspolitik beeinflussten und mit welchen Argumenten sie ihre Positionen legitimierten. Da die Berufsbildung auf Entwicklungen in der gymnasialen Bildung reagierte, erfordert die Untersuchung eine Kombination beider Perspektiven, um die Interaktionen herauszuarbeiten.
Untersucht werden die Kantone Thurgau und Basel-Stadt, die sich in zentralen Merkmalen. unterscheiden (wirtschaftliche Entwicklung, politische Struktur, Bildungsangebot auf der Tertiärstufe, etc). Hinsichtlich der Bildungsabschlüsse (Matur, Lehrabschluss) zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen. Beide Kantone bauten jedoch im Untersuchungszeitraum ihre gymnasiale Bildung aus, was spannende Vergleiche und Analysen ermöglicht. Diese beiden Kantone sind ausserdem noch wenig erforscht (Bonoli & Vorpe, 2022; Gonon & Freidorfer-Kabashi, 2022).
Das Promotionsvorhaben ist Teil des SNF-Projekts «Soziale Argumente der Expansion der Sekundarstufe II in der Schweiz 1960 bis 1980. Debatten, Entscheidungen, Auswirkungen und Spezifitäten auf kantonaler Ebene (EvoSEC)». Das Projekt untersucht fünf Kantone: Basel-Stadt, Freiburg, Tessin, Thurgau und Waadt. Die Arbeit im Projektteam ermöglicht eine Ressourcenteilung sowie eine breitere Auseinandersetzung mit den Ergebnissen.
Forschungsfragen
Die Forschungsfragen systematisiere ich für meine Arbeit wie folgt:
Entwicklung der SEK II (1960–1980): Welche Ausdifferenzierungen des Bildungsangebots wurden verhandelt und welche Gesetze und Verordnungen wurden erlassen? Wie beeinflussten sie die kantonalen Quoten von Bildungsabschlüssen und das «Nebeneinander» von Gymnasial- und Berufsbildung in den beiden Kantonen?
Akteure und Argumente: Welche Akteure beeinflussten mit welchen Argumenten die Bildungspolitik? Welche wissenschaftliche Expertise wurde eingebunden und welche Argumente fanden Anerkennung?
Folgende Themenstränge bieten sich an, um die Fragen zu bearbeiten:
Infrastrukturplanung: In den 1960er Jahren führten steigende Schüler:innenzahlen zu Diskussionen über die Schaffung neuer Schulstandorte im Thurgau und in Basel-Stadt ((De-)Zentrali¬sierung). Diese Frage betraf sowohl die Allgemeinbildung als auch die berufliche Bildung und stand in Zusammenhang mit Überlegungen, welchen Personengruppen der Zugang zu diesen Bildungswegen ermöglicht oder erleichtert werden sollte.
Zugangswege zur gymnasialen Bildung: In beiden Kantonen wurde die Möglichkeit eines «gebrochenen» Bildungswegs diskutiert, der mehr Jugendlichen den Übertritt ins Gymnasium ermöglichen sollte (Übertritt nach der SEK I).
Methoden und Quellen
Der Quellenkorpus wird im Rahmen der Projektarbeit zusammen mit dem Projektteam in kantonalen und eidgenössischen (Online-)Archiven und Bibliotheken (Staatsarchive Basel-Stadt und Thurgau, e-periodica, e-newspaperarchives) erarbeitet. Der Korpus umfasst Dokumente wie Gesetze, Verordnungen, Parlaments- und Kommissionsprotokolle auf eidgenössischer und kantonaler Ebene. Die öffentliche Debatte dazu soll anhand einer Analyse verschiedener Zeitungen erfasst werden. Statistische Daten zu Bildungsabschlüssen aus verschiedenen Quellen werden verwendet, um die Entwicklung der SEK II in den beiden Kantonen abzubilden und Auswirkungen politischer Entscheidungen zu überprüfen. Die Quellen sollen kritisch auf ihre Bedeutsamkeit für die Beantwortung der Fragestellungen geprüft und in einer historischen Diskursanalyse ausgewertet werden.
Erwarteter Gewinn
Die Dissertation trägt zum Verständnis der Entwicklung der SEK II bei, indem sie Berufs- und Allgemeinbildung in ausgewählten Kantonen gemeinsam analysiert und dabei sozialpolitische Argumente in den Mittelpunkt stellt. Diese Perspektive ergänzt bestehende Studien, die häufig entweder die Berufs- oder die Allgemeinbildung isoliert untersuchten und dabei wirtschaftliche Argumentationslinien der Bildungsexpansion fokussierten. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen zur Präzisierung zentraler Begriffe internationaler Debatten beitragen und als empirische Grundlage für die Reflexion zu diesen Themen dienen.
Literatur
Bauder, T., & Osterwalder, F. (2008). 75 Jahre eidgenössisches Berufsbildungsgesetz: Politische, pädagogische, ökonomische Perspektiven. h.e.p.
Berner, E., & Bonoli, L. (2019). La formation professionnelle suisse entre Confédération et cantons. Éléments d’une histoire complexe. In N. Lamamra, J.-L. Berger, & L. Bonoli (Hrsg.), Enjeux de la formation professionnelle en Suisse: Le « modèle » suisse sous la loupe (S. 53–77). Seismo. https://doi.org/10.33058/seismo.20722
Bonoli, L., & Eigenmann, P. (2021). Komplexität, Spannungsfelder und Kompromisse. Eine Relektüre der Geschichte der Berufsbildung in der Schweiz. In S. Dernbach-Stolz, P. Eigenmann, C. Kamm, & S. Kessler (Hrsg.), Transformationen von Arbeit, Beruf und Bildung in Internationaler Betrachtung. (S. 41–60). Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
Bonoli, L., & Vorpe, J. (2022). Swiss VET between National Framework and Cantonal Autonomy: A Historical Perspective. Education Sciences, 12(2), 114. https://doi.org/10.3390/educsci12020114
Criblez, L. (2001). Bildungsexpansion durch Systemdifferenzierung am Beispiel der Sekundarstufe II in den 1960er- und 1970er-Jahren. Swiss Journal of Educational Research, 23(1), 95–118. https://doi.org/10.24452/sjer.23.1.4598
Criblez, L. (2002). Gymnasium und Berufsschule: Zur Dynamisierung des Verhältnisses durch die Bildungsexpansion seit 1950. Chronos.
Criblez, L. (2008). Bildungsraum Schweiz: Historische Entwicklung und aktuelle Herausforderungen (1. Aufl). Haupt.
Gonon, P. (2010). Reformsteuerung, Stabilität und Wandlungsfähigkeit der Berufsbildung - „Laboratory Federalism“ als Motor der Bildungsreform in der Schweiz. In U. Lange, S. Rahn, W. Seitter, & R. Körzel (Hrsg.), Steuerungsprobleme im Bildungssystem: Theoretische Probleme, strategische Ansätze, empirische Befunde (S. 249–265). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91922-5_14
Gonon, P., & Freidorfer-Kabashi, L. (2022). Education and Training Regimes within the Swiss Vocational Education and Training System. A Comparison of the Cantons of Geneva, Ticino, and Zurich in the Context of Educational Expansion. Education Sciences, 12(1), 20. https://doi.org/10.3390/educsci12010020
Hess, F. C., Schneider, W., & Latscha, F. (1966). Die Ungleichheit der Bildungschancen [Hochschulschrift]. Basel.
Lamprecht, M., & Stamm, H. (1996). Soziale Ungleichheit im Bildungswesen. Bundesamt für Statistik (Hrsg.).