Zugangswege zur Primarlehrer/innenbildung in der Schweiz. Eine konventionensoziologische Analyse zur Bedeutung von Fachmittelschule und Gymnasium.
Autorin: Dr. phil. Sandra Hafner
Gutachtende: Prof. Dr. Regula Julia Leemann (PH FHNW), Prof. Dr. Christian Imdorf (Leibniz Universität Hannover), Prof. Dr. Manfred Max Bergman (Universität Basel)
Projektdauer: 2016-2020
Abstract
Der Lehrpersonenmangel auf Primarstufe legt nahe, die Rekrutierungsbasis Pädagogischer Hochschulen (PH) näher zu betrachten. Hier sind das Gymnasium und die Fachmittelschule die quantitativ wichtigsten Zubringer zum Studiengang Primarstufe. Das Gymnasium galt lange als «Königsweg» (EDK, 2005) in die PH, und die musisch-pädagogischen Schwerpunktfächer sollten die ehemaligen Lehrer/innenseminare auf Sekundarstufe II funktional ersetzen (Criblez 2016). Dennoch sinkt der Anteil PH-Studierender mit einer gymnasialen Maturität (SKBF, 2018), und aktuell tragen überwiegend Fachmaturand/innen zum Wachstum der PH-Studierendenzahlen bei (Denzler, 2018) – obwohl ihre Zulassung zur PH einst umstritten war (Kiener, 2004). Ziel der Studie ist, diese unterschiedliche und historisch veränderliche Bedeutung der beiden Schultypen für die Primarlehrer/innenbildung zu erklären. Den theoretischen Rahmen bildet die Soziologie der Konventionen (Boltanski & Thévenot, 2007). Sie geht davon aus, dass Akteur/innen Handlungen, Personen (Lehrpersonen, Schüler/innen), aber auch z.B. Lehrpläne und Bildungsziele mit Rückgriff auf verschiedene Gemeinwohlorientierungen (Konventionen) bewerten und legitimieren (Diaz-Bone 2018). Die multi-methodische Studie umfasst eine historische Dokumentenanalyse, quantitative Bildungsverlaufsanalysen und drei kantonale Fallstudien (Dokumente, Interviews, Unterrichtsbeobachtungen).
Die historischen Analysen zeigen, dass aufgrund des föderalistischen Prinzips der Bildungssteuerung in der LLB immer wieder ein Minimalkonsens gefunden und Kompromisse zwischen verschiedenen Interessen bzw. Gemeinwohlorientierungen (Konventionen) hergestellt werden mussten. Dies sowie das Berufen auf bereits getätigte bildungspolitische ‘Investitionen’ ermöglichte die Institutionalisierung der FMS als PH-Zubringerin. Auf Basis der kantonalen Fallstudien lassen sich die beiden untersuchten Schultypen jeweils als schulisches Dispositiv (Diaz-Bone, 2017) aus Bildungszielen und -inhalten, Wissensformen, Strategien der Wissensvermittlung und pädagogischen Beziehungen sowie materiellen und immateriellen Komponenten (Rahmenstundentafeln, Lehrpläne, Objekte) bezeichnen. Das schulische Dispositiv der FMS beruht zum einen auf der funktionalen Logik der kompetenzorientierten Vorbereitung auf die Berufsausbildung zur Lehrperson (industrielle Konvention), zum anderen auf Werten der Gemeinschaft, Charakterbildung und Praxisnähe (häusliche Konvention), welche die Jugendlichen früh für den Lehrberuf sozialisieren. Das schulische Dispositiv der musisch-pädagogischen Schwerpunktfächer des Gymnasiums valorisiert stärker eine inhaltliche Entkopplung von Schwerpunktfach und zukünftiger Studienwahl. Es fördert eine auf Kultur und Wissenschaft basierende Allgemeinbildung (staatsbürgerliche Konvention) und ein kreativ-leidenschaftliches Entfalten der Jugendlichen (inspirierte Konvention). Die monofachliche Orientierung im Schwerpunktfach befördert disziplinär-wissenschaftliches Interesse und ist zu einer multidisziplinären Berufsausbildung zur Primarlehrperson nur begrenzt anschlussfähig. Diese Unterschiede machen verstehbar, weshalb die FMS im Vergleich zum Gymnasium eine höhere Rekrutierungsquote von Anwärter/innen für den Lehrberuf erzielt und wie entsprechende Interessen und Orientierungen in beiden Profilen ausgebildet und verstärkt werden.