Kindheit in Knechtschaft: verdrängen oder anerkennen? Lebensgeschichten ehemaliger Verdingkinder mit Fokus auf ihre Ressourcen
Autorin: Dr. phil. Astrid Bieri
Gutachtende: Prof. Dr. Hans-Ulrich Grunder (Universität Basel), Prof. Dr. Béatrice Ziegler (PH FHNW)
Projektdauer: 2015-2020
Abstract:
In dieser Studie wird der Frage nachgegangen, wie sich Lebensläufe von Menschen gestalten, die unter prekären Bedingungen aufwachsen. Dabei wird nach Ressourcen gefragt, die es den Betroffenen möglich machten, trotz widriger Lebensumstände den Gefahren zu trotzen, denen sie insbesondere während ihrer Kindheit, Jugend und teilweise auch im Erwachsenenleben ausgesetzt waren. Ohne die belastenden Ereignisse im Leben der Betroffenen zu unterschlagen, werden dazu in dieser Studie Entwicklungschancen und Stärken ehemaliger Verdingkinder herausgearbeitet.
Die Möglichkeit einer ressourcenorientierten Annäherung an die Lebensgeschichten der Betroffenen bietet die Theorie Aaron Antonovskys (1985, 1997), dessen Ressourcenkonzept als theoretischer Hintergrund herbeigezogen wird. Antonovskys salutogenetische Orientierung ermöglicht insofern einen Perspektivenwechsel, als dass Antonovsky Risikofaktoren nicht grundsätzlich problematisiert, sondern diese als allgegenwärtig im Leben eines jeden Menschen betrachtet. Die omnipräsenten Stressoren führen zur Mobilisierung ebenso allgegenwärtiger allgemeiner Widerstandsressourcen.
Die traumatischen Kindheitserfahrungen werden mit dem Konzept der sequenziellen Traumatisierung nach David Becker (2014) erfasst. Das Konzept erlaubt die Erfassung traumatischer Prozesse von Verdingkindern ohne eine pathologisierende Zuschreibung. Damit werden die salutogenetischen Grundannahmen Antonovskys angemessen berücksichtigt.
Die Auswertung der Lebensgeschichten fünf ehemaliger Verdingkinder, die alle in ihrer Kindheit administrativ versorgt wurden, erfolgt nach der Methode der biografischen Fallrekonstruktion nach Gabriele Rosenthal (2011).
Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Frage nach der Hinwendung, beziehungsweise der Distanzierung, zum erfahrenen Unrecht von allen Betroffenen ein Leben lang bearbeitet wurde. Auf der Grundlage des empirischen Materials können im Sinne einer theoretischen Verallgemeinerung zwei Verlaufstypen gebildet werden. Während Repräsentanten von Verlaufstypus A («Distanzierung») sich vom erlebten Unrecht distanziert haben und sich am beruflichen und sozialen Aufstieg orientieren, gestaltet sich diese Abgrenzung bei den Repräsentanten von Verlaufstypus B («erschwerte Distanzierung») schwierig.
Auf Grundlage der Fallrekonstruktionen kann eine Vielzahl an allgemeinen Widerstandsressourcen identifiziert werden. Zu den wichtigsten Ressourcen aller Biografen dieser Studie gehören eine ausgeprägte Leistungsorientierung einhergehend mit einer hohen Bildungsaspiration. Durch das Leben unter prekären Bedingungen haben sich diverse Assimilierungsstrategien herausgebildet, auf die die ehemaligen Verdingkinder bis ins Alter zurückgreifen können. Ein Anknüpfungspunkt an aktuelle schul- und sonderpädagogische Diskurse ergibt sich aus den Hinweisen auf Ressourcen im sozialen Nahraum. Es kann aufgezeigt werden, dass Kontakte zu Angehörigen eines höheren Milieus den Aufbau eines Netzwerks ermöglichen können und damit zur Eröffnung von Bildungschancen führen. Die Lehrperson kann mit der Übernahme der Rolle als «soziale Patin» einen wesentlichen Beitrag zur Förderung benachteiligter Kinder übernehmen.