Promovendin: Simona Schmid
Keywords: Migration, Bildungsungleichheiten, Akkulturation, Chancengerechtigkeit
Gutachtende: Prof. Dr. Elena Makarova (Uni Basel), Prof. Dr. Andrea Haenni Hoti (PH Luzern)
Projektbeginn: HS 2023

Theoretische Verankerung
Wiederholt konnten in der Bildungsforschung signifikante Unterschiede der Bildungsbeteiligung zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund eruiert werden (Alba, Handl & Müller, 1994; Baumert, Watermann & Schümer, 2003; Baur, 2013; Diefenbach, 2009). Innerhalb der Akkulturationsforschung weisen verschiedene Autor*innen in diesem Zusammenhang auf die zentrale Bedeutung von kontextualen Bedingungen (acculturation conditions) hin, unter denen die erfolgreiche schulische Adaptation von Migrant*innen erfolgt. In ihren empirischen Untersuchungen kommen sie zum Schluss, dass neben Akkulturationsstrategien (acculturation orientiations) auch Kontextbedingungen der Akkulturation die schulische Adaptation (school adjustment) von Schüler*innen mit Migrationshintergrund wesentlich beeinflussen (Haenni Hoti, Wolfgram, Müller, Heinzman & Buholzer, 2019; Makarova und Birman, 2016; Makarova, ‘T Gilde, & Birman, 2019; Makarova, Döring, Auer, ‘T Gilde und Birman, 2023; Schachner, van de Vijver und Noack, 2017). Auch gemäss dem Akkulturationsmodell nach Haenni Hoti und Bano (2021), welches auf dem IRR-Modell nach dem Resilienzmodell (IRR) von Suárez-Orozco, Motti-Stefanidi, Marks und Katsiaficas (2018) basiert, beeinflussen die Akkulturationsbedingungen in den Mikrosystemen Familie, Schule und Peer-Group sowie demographische Variablen die Akkulturationsorientierungen und die Akkulturationsergebnisse wie die schulische Adaptation (school adjustment) von Kindern mit Migrationshintergrund. Bislang wurde das Modell jedoch nicht empirisch validiert. Aus diesem Grund legt das kumulativ ausgerichtete Dissertationsprojekt den Fokus auf den Zusammenhang zwischen familiären und schulbezogenen Akkulturationsbedingungen und ihren Einfluss auf die schulische Adaptation von Kindern mit Migrationshintergrund in Primarschulklassen der Schweiz.

Forschungsfrage(n)
Inwiefern beeinflussen familiäre und schulbezogene Akkulturationsbedingungen die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz?

Für das Promotionsvorhaben werden die Schulzufriedenheit, das akademische Selbstkonzept sowie das Zugehörigkeitsgefühl zur Schule als bedeutende Determinanten von schulischer Adaptation (school adjustment) erachtet. Innerhalb der Mikrosysteme ‘Familie’ und ‘Schule’ wird basierend auf der theoretischen Unterscheidung von Makarova und Birman (2016) zwischen prozesshaften und strukturellen Akkulturationsbedingungen differenziert. Daraus ergeben sich folgenden Unterfragen:

  • Inwiefern unterscheiden sich prozesshafte und strukturelle familiäre Akkulturationsbedingungen hinsichtlich ihres Effekts auf die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz?
  • Inwiefern unterscheiden sich prozesshafte und strukturelle schulbezogene Akkulturations-bedingungen hinsichtlich ihres Effekts auf die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz?
  • Welche Wechselwirkung besteht zwischen familiären und schulischen Akkulturationsbedingungen bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz? 
  • Welchen Effekt hat diese Wechselwirkung auf die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz?
  • Inwiefern beeinflussen verschiedene demografische Variablen die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Schweiz?

Materialgrundlage und Feldzugang
Grundlage für die Dissertation sind die quantitativen Daten des ICHIS-Projektes Immigrant Children in India and Switzerland – a Comparative Study of Economic, Educational and Health-related Acculturation Conditions der Pädagogischen Hochschule Luzern, das als exploratives Forschungsprojekt konzipiert ist und in Kooperation mit der Banaras Hindu University Varanasi (Indien) durchgeführt wird. Dieses vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Forschungsprojekt ist Teil der Kooperation zwischen Indien und der Schweiz, namentlich Indo-Swiss Joint Research Programme (ISJRP) (SNSF, 2021). Die Dissertation wird ausschliesslich unter Berücksichtigung der Schweizer Daten verfasst. Für die Stichprobe der quantitativen Erhebung wird eine Zufallsstichprobe in der deutschsprachigen Schweiz gezogen. Die Stichprobe umfasst 60 Schulklassen mit Primarschulkindern (Klasse 5 bis 6) im Alter von 11-12 Jahren, verschiedener Geschlechter, diverser ethnischen Zugehörigkeiten, Nationalitäten und Erstsprachen sowie Primarschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund (total n=1’200 Schüler*innen) sowie deren Klassenlehrperson (total n=60 Klassenlehrpersonen).

Methodischer Zugang (Datenerhebung und -auswertung)
Die Daten werden mittels eines standardisierten schriftlichen Fragebogens für Schüler*innen erhoben. Das Messinstrument ermöglicht verschiedene Operationalisierungen von Migrationshintergrund. Demgemäss kann zwischen Schüler*in ohne im Ausland geborenen Elternteil, Schüler*innen mit einem im Ausland geborenen Elternteil und Schüler*innen mit zwei im Ausland geborenen Elternteilen unterschieden werden. Zudem erlauben neben der Variable Migrationshintergrund weitere demografische Daten wie Geschlecht, ethnische und religiöse Zugehörigkeit, Erstsprache, Aufenthaltsdauer, Haushaltausstattung, Bildungsressourcen einen intersektionalen Blick (Crenshaw, 2017) auf die Zielgruppe und deren schulische Adaptation. Weitere Daten werden mittels eines standardisierten schriftlichen Fragebogens für Lehrpersonen erhoben. Zur statistischen Auswertung der Daten werden mehrstufige und multiple Regressionsanalysen mit dem Statistikprogramm R(Studio) durchgeführt.

Erwarteter Gewinn der Arbeit
Das Novum des Promotionsvorhabens liegt darin, dass in der Schweiz erstmals eine Studie zur Akkulturation und zur schulischen Adaptation von Schüler*innen durchgeführt wird, welche den Fokus nicht länger auf den Zusammenhang von Akkulturationsorientierungen und schulischer Adaptation, sondern auf die Beziehung zwischen familiären bzw. schulbezogenen Kontextbedingungen der Akkulturation und der schulischen Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund legt. Zudem wird die bisher empirisch kaum untersuchte Wechselwirkung zwischen Akkulturationsbedingungen in der Schule und Familie und deren Einfluss auf die schulische Adaptation von Schüler*innen mit Migrationshintergrund untersucht. Schliesslich erlaubt die vorliegende Dissertation die im (Deutsch-)Schweizer Kontext noch zu wenig erforschten Migrationsgruppen (z.B. Schüler*innen mit ukrainischem, afghanischem oder eritreischem Migrationshintergrund) in den Fokus der Untersuchung zu stellen.

Literatur
Alba, R. D., Handl J., & Müller W., (1994). Ethnische Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46(2), 209-237.

Baumert, J., Watermann R., & Schümer G. (2003). Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs. Ein institutionelles und individuelles Mediationsmodell. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 6(1), 46–71.

Baur, C. (2013). Schule, Stadtteil, Bildungschancen: Wie ethnische und soziale Segregation Schüler/-innen mit Migrationshintergrund benachteiligt. Bielefeld: Transcript.

Crenshaw, K. (2017). On intersectionality: Essential writings. New York: New Press.

Diefenbach, H. (2009). Der Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Schülern ohne Migrationshintergrund. In R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie (S. 433–457). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91711-5_15

Haenni Hoti, A., Wolfgramm, C., Müller, M., Heinzmann, S., & Buholzer, A. (2019). Immigrant students and their teachers – exploring various constellations of acculturation orientations and their impact on school adjustment. Intercultural Education30(5), 478–494. https://doi.org/10.1080/14675986.2019.1586214

Haenni Hoti A., & Bano S. (2021). Acculturation model. [noch nicht publiziert]

Makarova, E., & Birman, D. (2016). Minority students’ psychological adjustment in the school context: An integrative review of qualitative research on acculturation. Intercultural Education27(1), 1–21. https://doi.org/10.1080/14675986.2016.1144382

Makarova, E., ‘T Gilde, J., & Birman, D. (2019). Teachers as risk and resource factors in minority students’ school adjustment: An integrative review of qualitative research on acculturation. Intercultural Education30(5), 448–477. https://doi.org/10.1080/14675986.2019.1586212

Makarova, E., Döring, A. K., Auer, P., ‘T Gilde, J., & Birman, D. (2023). School adjustment of ethnic minority youth: A qualitative and quantitative research synthesis of family-related risk and resource factors. Educational Review, 75(2), 324–347. https://doi.org/10.1080/00131911.2021.1905610

Schachner, M. K., Van De Vijver, F. J. R., & Noack, P. (2017). Contextual conditions for acculturation and adjustment of adolescent immigrants – integrating theory and findings. Online Readings in Psychology and Culture8(1). https://doi.org/10.9707/2307-0919.1142

SNSF [Swiss National Science Foundation] (2021). Indo-Swiss Joint Research Programme (ISJRP) Joint Research Projects: Call for Proposals 2021. https://www.snf.ch/media/de/uYHlWBXKc67SeR5U/Call_document_SNSF_MoES_ICSSR.pdf (abgerufen am 27.06.2023)

Suárez-Orozco, C., Motti-Stefanidi, F., Marks, A., & Katsiaficas, D. (2018). An integrative risk and resilience model for understanding the adaptation of immigrant-origin children and youth. American Psychologist73(6), 781–796. https://doi.org/10.1037/amp0000265