Promovendin: Rebecca Milde
Keywords: Sportunterricht, Fachdidaktik Sport, Sportdidaktik, Unterrichtspraxis, Unterrichtsgegenstand, Curriculum Making, Ko-Konstruktion, Qualitative Forschung, Narrative Inquiry
Gutachtende: Prof. Dr. Roland Messmer, Prof. Dr. Markus Gerber
Projektbeginn: HS 2024

Dass im Sportunterricht Sport praktiziert wird, ist zunächst evident. Lehrpläne, wie der für die Schweiz geltende LP21, scheinen eine konkrete Handlungsvorgabe, das Mandated Curriculum, vorzugeben (vgl. D-EDK; Poweleit, 2019; Rosiek & Clandinin, 2020; Balz & Böttcher, 2023). Dabei wird, durch den der Institution Schule immanenten Erziehungs- und Bildungsauftrag, für das Fach Sport, das Ziel, die «selbstbestimmte Auseinandersetzung mit den Werten und Gegenständen dieses Kulturguts», verfolgt (Prohl, 2008). Den, im übertragenen Sinne, Raum dazu gibt der, als eine Veranstaltung des Lehrens und Lernens definierte «Unterricht» (Scherler, 2008), wobei das zu Lernende – das sich im Unterrichtsgegenstand präsentiert – nach Asbrand und Martens (2018), als Resultat von grundsätzlich unbestimmter und komplexer sozialer Interaktion zu betrachten ist. Der Fachgegenstand ist zudem durch individuelle Sportbiografien, von Schüler:innen und Lehrpersonen, geprägt und wird zugleich erst durch die Inter-Aktion der Akteure sinnhaft (Messmer, 2013; 2018). So haben u.a. kulturelle, geografische, historische als auch ethnografische Einflüsse eine entscheidende Bedeutung und bestimmen den Gegenstand weiter (Scherler, 2008; Poweleit, 2019; Ruin & Stibbe, 2023). Die Komplexität wird zusätzlich erhöht, da kongruente Lernmaterialien für die Schüler:innen, wie sie in anderen Fächern als Teil eines Hidden Curriculum (vgl. Rosiek & Clandinin, 2020) verstanden werden können, nicht zugegen sind, wenngleich zwischen 1876 und 1997 noch in regelmässigen Abständen die «Turnschulen» publiziert wurden. Im Weiteren steht der Gegenstand des Fachs in einer Ambivalenz von «trainingsnaher Unterrichtung und bildendem Unterricht» (Schierz, 2014, p. 12). So sind im LP21 mehrheitlich konkrete Fähigkeiten formuliert, worin sich eine Fokussierung auf Inhalte respektive Sportarten abzeichnet. Dennoch wird dem Sportunterricht immer auch eine erzieherische Wirkung zugemutet (Doppelauftrag).

Im Rahmen der Promotion wird der Unterrichtsgegenstand aus einer fachdidaktischen Perspektive untersucht. Die Arbeit ist eingebettet in das SNF finanzierte Forschungsprojekt «Unterrichtspraxis im Fach Sport. Studie zur Ko-Konstruktion von Unterrichtsgegenstand,  Unterrichtsprozessen und Lernprozessen im Sportunterricht (UPiS-Studie)». Offenzulegen ist, wie Sportunterricht als Summe der Teile, Summe der verschiedenen Curricula (vgl. Rosiek & Clandinin, 2020) im Tatsächlichen konstruiert wird: Was wird zum Gegenstand gemacht? Wie werden bei der Konstruktion des Unterrichtsgegenstands der Lehrplan, die Schulkultur, die verfügbaren Räumlichkeiten, das vorhandene Material, der Stundenplan und weitere organisatorische Aspekte berücksichtigt? Curriculum Making dient als theoretischer Zugang. Der Logik des Curriculum Making folgend wird die Unterrichtspraxis als fachspezifische Ko-Konstruktion verstanden, die sich durch die Interaktion der Akteur:innen mit dem Unterrichtsgegenstand ergibt und den Gegenstand damit auch definiert. Narrative Inquiry fungiert dabei als Forschunsgzugang. Im Diskurs um Curriculum Making kann sie als bevorzugte Forschungsmethode angesehen und für die Beantwortung der Forschungsfragen sowie die Disziplin der Fachdidaktik Sport – auch im internationalen Diskurs – als innovativ bezeichnet werden (Craig et al., 2018). Dabei vermag sie durch die von ihr beanspruchenten Dimensionen «Temporality», «Place» und «Sociality», die Konzeption von Erfahrung durch Geschichten sowie sozialen, kulturellen und institutionellen Erzählungen, welche einem Individuum innewohnen, zu erfassen (Craig, 2020; Clandinin, 2023; Messmer et al., 2023). 

Da der Unterrichtsgegenstand massgeblich durch die Akteur:innen determiniert wird, ist einzig die analoge Beobachtung des Sportunterrichtes unvollständig. Als Datenquellen dienen deshalb Unterrichtsvideos, welche aus verschiedenen Perspektiven, mit verschiedenen Kameras generiert und durch Gespräche (Stimulated Recall) mit den Lehrpersonen und ausgewählten Schüler:innen ergänzt werden. Zudem werden schulinterne und offizielle Lehrpläne und weitere «Feldtexte» (Clandinin & Connelly, 2000) im Sinne von natürlichen Protokollen wie Planungsunterlagen der Lehrpersonen, Unterrichtsmaterialien oder Aufgabenblätter als Datenquellen genutzt. Dabei bilden diese Protokolle unterschiedlicher Art die Datengrundlage, wobei sie im Verlauf des Forschungsprozesses immer weiter verdichtet werden und dadurch in einem grösseren Zusammenhang durch Geschichten interpretiert werden (Messmer, 2023). Die Narrative Inquiry, als qualitativer Forschungszugang, ermöglicht über einen beschreibend-verstehenden Ansatz, Sportunterricht, respektive den Gegenstand des Sportunterrichts greifbar werden zu lassen. Die Implikation von Counter Narratives gewährt dabei eine explizite Darstellung der Gegenständlichkeit und eine maximale Kontrastierung der Narrationen. 

Weil die erfassten Geschichten unmittelbar aus Erkenntnissen der Praxis hervorgehen, sind sie für eine kompetenzorientierte und lernwirksame Weiterentwicklung des Schulfachs zentral. Die erwarteten Resultate ermöglichen dadurch eine weiterreichende fachspezifische Qualitätsentwicklung von Sportunterricht, die bislang meist auf Übernahmen von Qualitätsmerkmalen anderer Fächer beruht. Diese Rezeption ist aufgrund der aufgeführten Spezifik, die das Unterrichtsfach Sport aufweist, diffizil. Die gewonnen Daten offenbaren damit wichtige und notwendige Anhaltspunkte zur fachspezifischen Argumentation und lassen eben diese sowohl auf nationaler als auch internationalen Ebene zu. Zudem legitimieren sie, analog zur CPV-Studie (vgl. Janík et al., 2009; Janíková et al., 2018), zur Durchführung von Vergleichen mit anderen Fachdidaktiken. Des Weiteren fördern sie, neben einer evidenzbasierten Lehrplanentwicklung und Evaluation von Lehrmitteln, die ständige Evaluation von Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen und vermögen in die Evaluation des Curriculums der Tertiären Ebene einbegriffen zu werden.

Literatur:
Asbrand, B., & Martens, M. (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10892-2

Balz, E., & Böttcher, A. (2023). Inhalte und Themen - Zur Frage der Auswahl. In S. Ruin & G. Stibbe (Eds.), Sportdidaktik und Schulsport: zentrale Themen einer diversitätssensiblen Fachdidaktik (pp. 113-130). hofmann.

Clandinin, D. J. (2023). Engaging in narrative inquiry (2nd ed.). Routledge.

Clandinin, D. J., & Connelly, F. M. (2000). Narrative Inquiry. Jossey-Bass Publishers.

Craig, C. J. (2020). Curriculum Making, Reciprocal Learning, and the Best-Loved Self. Palgrave Maximilian.

Craig, C. J., You, J., Zou, Y., Verma, R., Stokes, D., Evans, P., & Curtis, G. (2018). The embodied nature of narrative knowledge: A cross-study analysis of embodied knowledge in teaching, learning, and life. Teaching and Teacher Education, 71, 329–340. https://doi.org/10.1016/j.tate.2018.01.014

Janík, T., Seidel, T., & Najvar, P. (2009). Introduction: On the power of video studies in investigating teaching and learning. In T. Janík & T. Seidel (Eds.), The power of video studies in investigating teaching and learning in the classroom (pp. 7-19). Waxmann.

Janíková, M., Janík, T., Mužík, V., & Kundera, V. (2018). CPV videostudie tělesné výchovy: sběr dat a zamýšlené analýzy. Orbis scholae, 2(1), 93–114. https://www.ceeol.com/search/articledetail? id=728184

Messmer, R. (2013). Fachdidaktik Sport. UTB GmbH. http://books.google.ch/books?id=QPO9wAEACAAJ&hl=&source=gbs_api

Messmer, R. (2018). What is the subject matter of Physical Education? German Journal of Exercise and Sport Research. doi: 10.1007/s12662-018-0531-2

Messmer, R. (2023). Didaktik in Stücken. Werkstattbericht zur Fallarbeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Academia – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft. https://doi.org/10.5771/9783985720767

Messmer, R., Schönfeld, K., & Vogler, J. (2023). Narrative Matters – Narrative Inquiry als Forschungsmethode und Forschungshabitus. In B. Zander, D.

Rode, D. Schiller, & D. Wolff (Eds.), Qualitatives Forschen in der Sportpädagogik. Beiträge zu einer reflexiven Methodologie (pp. 309-331). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-38038-0_14

Poweleit, A. (2019). Lehrplankonzept, Erziehender Sportunterricht und Fachkultur: Eine Trendstudie zum kompetenzorientierten Lehrplan der Sekundarstufe in Luxemburg. Logos Verlag Berlin GmbH. https://play.google.com/store/books/details?id=BFuZDwAAQBAJ&source=gbs_api

Prohl, R. (2008). Erziehung mit dem Ziel der Bildung: Der Doppelauftrag des Sportunterrichts. In H. Lange & S. Sinning (Eds.), Handbuch Sportdidaktik (pp. 40-53). Spitta. http://books.google.ch/books?id=A5fGPQAACAAJ&hl=&source=gbs_api

Rosiek, J., & Clandinin, D. J. (2020). Curriculum and teacher development. In D. J. Clandinin (Ed.), Journeys in narrative inquiry. The selected works of D. Jean Clandinin (pp. 191-208). Routledge. https://doi.org/10.4324/9780429273896

Ruin, S., & Stibbe, G. (2023). Sportdidaktik und Schulsport - Einführung. In S. Ruin & G. Stibbe (Eds.), Sportdidaktik und Schulsport: zentrale Themen einer diversitätssensiblen Fachdidaktik (pp. 5-16). hofmann.

Scherler, K. (2008). Sportunterricht auswerten. Eine Unterrichtslehre. Feldhaus Edition Czwalina.

Schierz, M. (2014). Sportdidaktik wiederbelebt – Professionalisierungstheoretische Reflexionen zu einem Rettungsversuch. Zeitschrift für sportpädagogische Forschung, 2(1), 3–20. http://zsfo.de/ausgaben/beitraege/