Spät(er)berufene Lehrpersonen und ihr Bildungsweg– eine berufsbiografische und genderorientierte Studie über Studierende mit einer beruflichen Grundbildung als Vorbildung für die Lehrer*innenbildung Sekundarstufe I
Promovendin: Bettina Weller
Keywords: Wege in die Lehrpersonenbildung; Durchlässigkeit; Biografieforschung
Gutachtende: Prof. Dr. Regula Julia Leemann, Prof. Dr. Elena Makarova
Projektbeginn: FS 2022
Eine berufliche Grundbildung ist formal kein offizieller Weg in die Schweizer Lehrer*innenbildung (LLB). Dieser Bildungsweg bedeutet eine Umorientierung und meist eine längere Ausbildungszeit. Es sind weitere Hürden zu überwinden (z. B. Berufsmaturität (BM), Vorkurse, Ergänzungsprüfung «Passerelle»), um auf diesem Weg an eine Pädagogische Hochschule (PH) zu gelangen. Angesichts des aktuellen Lehrpersonenmangels und des bildungspolitischen Diskurses um die prüfungsfreie Zulassung von BM-Absolvierenden in die LLB ist es von Bedeutung, mehr Wissen zu dieser Studierendengruppe zu generieren.
Aktuell haben ca. 10 % aller Studierenden einer PH den Weg über eine berufliche Grundbildung und BM eingeschlagen (BFS 2018), wobei es zwischen den PHs grössere Unterschiede gibt. Eine Studie basierend auf quantitativen Längsschnittanalysen zeigt, dass nach einer beruflichen Grundbildung mit Berufsmaturität knapp 4 % der Absolvierenden innerhalb von 54 Monaten ein Studium an einer PH beginnen (Leemann et al. 2022). Welche biografischen Entscheidungen und Motivationen zu diesem Weg führen, wurde dagegen nicht untersucht. Daher verfolgt diese Dissertation das Ziel, die Ressourcen, Erfahrungen, Motive und Orientierungen, die diese Studierenden der Sekundarstufe I in die LLB mitbringen, zu erforschen und zu untersuchen, wie sich ihre Bildungswege mitsamt den biografischen Hintergründen gestalten, welche Bedeutung der institutionellen Durchlässigkeit der Bildungswege zukommt und wie die unterschiedlichen Anteile von BM-Absolvierenden an den PHs erklärt werden können. Weiter soll analysiert werden, welches Berufsverständnis vorhanden ist, woran sich dieses orientiert und was die Attraktivität des Lehrberufes für diese Studierendengruppe ausmacht.
Forschungsfrage
Weshalb nehmen junge Erwachsene, die eine berufliche Grundbildung absolviert haben, anschliessend ein Studium im Studiengang der Sekundarstufe I auf, welche individuellen und institutionellen Faktoren sind mitverantwortlich, und welches Berufsverständnis bringen sie mit?
Teilfragen:
• Bildungsentscheidung und Biografie: Warum entscheiden sich junge Männer und Frauen nach einer beruflichen Grundbildung für ein Studium zur Sekundarlehrperson? Welche Rolle spielen Biografie und Geschlecht? Welche Wege gehen sie?
• Berufsverständnis und Geschlecht: Welches Berufsverständnis und welche Berufsvorstellungen zum Lehrberuf bringen Studierende, die eine berufliche Grundbildung absolviert haben, in den Studiengang zur Sekundarstufe I ein? Welche Verbindungen gibt es zu Geschlechterkonstruktionen?
• Zugangsweg und institutionelle Faktoren: Welche institutionellen Bedingungen befördern oder behindern den Zugangsweg über eine berufliche Grundbildung zum Studiengang Sekundarlehrperson? Wie können die Unterschiede zwischen den PHs erklärt werden?
Theoretische Verankerung
Bildungsentscheidung und Biografie: Das Promotionsvorhaben ist theoretisch u. a. in Pierre Bourdieus Sozialtheorie eingebettet. Diese ist von Relevanz, weil sie die Verbindung von Biografieforschung und Sozialstruktur ermöglicht. Mein biografieanalytischer Ansatz bezieht sich auf Bettina Dausien, die mit Bourdieu argumentiert, dass „Bildungswege gerade nicht das Resultat individueller Wahl sind, sondern Effekte der Positionierung im sozialen Raum, die […] objektive Möglichkeitsräume abstecken und ‚Laufbahnen‘ vorstrukturieren“ (Dausien 2014, S. 44). Zu beachten ist, dass dabei nicht das Individuum das Thema ist, sondern das soziale Konstrukt ‘Biografie’ (Fischer/Kohli 1987). ‘Biografie’ in diesem Sinne bietet sich wiederum als Rahmenkonzept für die Professionsforschung und -theoriebildung an (Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000).
Berufsverständnis und Geschlecht: Um dieses Verhältnis auszuloten, werden Professionstheorien einbezogen, die sich mit der Verbindung von Profession und Geschlecht auseinandersetzen (Burren/Larcher 2022; Rabe-Kleberg 1999; Wetterer 1992). Sie basieren auf Theorien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht (doing gender by doing profession) (Gildemeister 2009). Zum Genderaspekt im Lehrberuf knüpfe ich bei Erklärungsansätzen an, welche die geschlechtsspezifische Berufswahl auf strukturelle und den Lebenslauf bezogene Faktoren zurückführen (Leemann et al. 2022, S. 191; Makarova/Herzog 2020, S. 275).
Zugangsweg und institutionelle Perspektive: Um die Perspektive der Durchlässigkeit zu erfassen, stützt sich die Dissertation auf den Vorschlag von Ulf Banscherus, Nadine Bernhard und Lukas Graf (2016), in dem die Autor*innen unterschiedliche Dimensionen von Durchlässigkeit wie die Zugangsregelungen zu Bildungsgängen, die Anrechnung von Erlerntem, die organisationale Verbindung von Bildungsbereichen sowie den Umgang mit heterogenen Lernbedürfnissen unterscheiden.
Methodischer Zugang
Die Datenerhebung und -auswertung orientiert sich am autobiografisch-narrativen Interview nach Fritz Schütze (1983). Der methodische Zugang wird ergänzt durch kritische methodologische Reflexionen von Steffani Engler (2001), die Biografieforschung in ein weiteres Subjektverständnis stellt. Geplant ist eine Stichprobe von ca. 25 Interviews, die auf der Basis eines theoretischen Samplings gewonnen wird. Im Anschluss an die Analysen mit den verschiedenen theoretischen Perspektiven ist eine Typenbildung (Kelle/Kluge 2010) vorgesehen. Für die institutionelle Perspektive wird ein komparatives Case Study Design durchgeführt. Gemäss Yin (2009) ermöglicht dieses Forschungsdesign den Bezug zu mehreren Forschungsquellen und bietet sich bei der Forschung verschiedener institutioneller Bedingungen an.
Erwarteter Gewinn der Arbeit
Ich rechne mit Ergebnissen zum engen Zusammenhang von beruflichen und sozialen Hintergründen eines biografischen Verlaufs mit den Berufs- bzw. Professionsvorstellungen der Interviewpartner*innen. Für die Professionsforschung ist dies von Interesse, weil aufgezeigt werden kann, wie der biografische Hintergrund und die Berufsvorstellungen in Verbindung stehen.
Bezüglich Geschlechterforschung kann die Arbeit einen Beitrag zum spannungsreichen Verhältnis von Profession und Geschlecht leisten und die Weiterentwicklung einer genderbezogenen Professionstheorie für Lehrberufe empirisch befördern.
Für die institutionelle Perspektive kann aufgezeigt werden, welche Hürden zu bewältigen sind und was den erfolgreichen Weg in die LLB unterstützen kann; desweitern, wie institutionelle Strukturen, kulturelle Selbstverständlichkeiten und Massnahmen die Durchlässigkeit in die LLB befördern bzw. behindern.
Schliesslich soll die Arbeit Impulse für die Weiterentwicklung der Studiengänge der PHs hin zu einer vermehrt biografisch orientierten Lehrer*innenbildung liefern. Damit meine ich, dass vermehrt an vorhandenen Erfahrungen angeknüpft und darauf aufbauend an einem professionellen Bewusstsein gearbeitet werden kann.
Literatur
Banscherus, Ulf/Bernhard, Nadine/Graf, Lukas. 2016. Durchlässigkeit als mehrdimensionale Aufgabe. Bedingungen für flexible Bildungsübergänge. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
BFS Bundesamt für Statistik (2018). Hochschulstatistik. Neuchâtel: BFS.
Burren, Susanne/Larcher Sabina (Hrsg.). 2022. Geschlecht, Bildung, Profession. Ungleichheiten im pädagogischen Berufsfeld. Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich.
Dausien, Bettina. 2014. „Bildungsentscheidungen“ im Kontext biografischer Erfahrungen und Erwartungen. In: Miethe, Ingrid/Ecarius, Jutta/Tervooren, Anja (Hrsg.). Bildungsentscheidungen im Lebenslauf. Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich. S. 39-61.
Engler, Steffani. 2001. «In Einsamkeit und Freiheit?»: Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur. Konstanz: UVK-Verlags-Gesellschaft.
Fischer, Wolfram/Kohli, Martin. 1987. Biographieforschung. In: Voges, Wolfgang (Hrsg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung. Opladen: Verlag Leske + Budrich. S. 25-49.
Gildemeister, Regine. 2009. Soziale Konstruktion von Geschlecht: Theorieangebote und offene Fragen. In: EEO Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online.
Helsper, Werner/Krüger, Heinz-Hermann/Rabe-Kleberg, Ursula. 2000. Professionstheorie, Professions- und Biographieforschung – Einführung in den Themenschwerpunkt. In: ZBBS. Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1/2000. Leverkusen: Verlag Leske+Budrich.
Herzog, Walter/Makarova, Elena. 2020. Entwicklung und Struktur der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Schweiz. In C. Cramer, J. König, M. Rothland & S. Blömeke (Hrsg.), Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung. S. 237-246. Stuttgart: UTB.
Kelle, Udo/Kluge Susanne. 2010 (1999). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. 2. überarb. Auflage. Opladen: Leske + Budrich.
Leemann, Regula Julia/Pfeifer Brändli, Andrea/Imdorf, Christian/Hafner, Sandra. 2022. Lehramtsstudierende in der Schweiz: Zur Bedeutung der Zugangswege Gymnasium, Fachmittelschule und berufliche Grundbildung in Geschlechterperspektive. In: Burren, Susanne/Larcher Sabina (Hrsg.). 2022. Geschlecht, Bildung, Profession. Ungleichheiten im pädagogischen Berufsfeld. Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich.
Makarova, Elena/Herzog, Walter. 2020. Geschlechtersegregation bei der Berufs- und Studienwahl von Jugendlichen. In: Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.): Berufsorientierung – Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Münster: Waxmann. S. 271-278.
Rabe-Kleberg, Ursula. 1999. Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was ist «semi» an traditionellen Frauenberufen? In: Come, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.). Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt: Suhrkamp. 3. Auflage. S. 276-302.
Schütze, Fritz. 1983. Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3/1983
Wetterer, Angelika (Hrsg.). 1992. Profession und Geschlecht: Über die Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Berufen. Frankfurt/New York: Campus.
Yin, Robert. 2009. Case study research. Design and methods. 4. Auflage. Los Angeles: Sage Publications