Autorin: Dr. phil. Vera Sperisen
Gutachtende: Prof. Dr. Monika Waldis, Fachhochschule Nordwestschweiz, Prof. Dr. Walter Leimgruber, Universität Basel, Prof. Dr. Dirk Lange, Universität Wien
Projektdauer: 2019 - 2024

Abstract
Unter dem von Paul Mecheril eingeführten Begriff der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit wird eine soziale Ordnung gefasst, die ihre Wirkmacht aus den verschwommenen, unklaren und wechselseitigen Verweisen auf «das Nationale», «die Ethnizität» und «das Kulturelle» zieht. Gerade in dieser Vagheit liegt die Wirkmacht von Vorstellungen über «natio-ethno-kulturell» konstituierte Gruppen. Es handelt sich um eine Imagination, die ein diffuses, natio-ethno-kulturelles «Wir» einem natio-ethno-kulturell verfassten «Nicht-Wir» entgegensetzt. Die kumulative Dissertation interessiert sich für die entsprechenden Wissensordnungen im schulischen Kontext, wobei hierzu insbesondere der Unterricht der Politischen Bildung in den Blick genommen wurde.

Das Forschungsinteresse betrifft drei Teilbereiche: Der zentrale Forschungsgegenstand ist die Unterrichtspraxis. Hierzu wurden videografierte Interaktionsprozesse zwischen den am Unterricht beteiligten Schüler*innen und den Lehrpersonen mit Hilfe von codierenden und sequenzanalytisch-rekonstruktiven Verfahren untersucht. Die leitende Forschungsfrage lautet: Wie wird Zugehörigkeit im Unterricht der Politischen Bildung durch den Vollzug von sozialen Praktiken konstruiert bzw. dekonstruiert? Ergänzend wurde das reflexiv zugängliche Konzeptwissen bezüglich natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten bei Lehrpersonen (Interviews) sowie die Selbst- und Fremdzuschreibungen der Schüler*innen (Gruppengespräche) in den Blick genommen. Ein dritter Fokus liegt auf der Didaktik der Politischen Bildung. Im Anschluss an die Analyse der Unterrichts- und Videodaten wurden neue theoretische Zugänge für die Didaktik der Politischen Bildung angedacht und entwickelt, die in Zukunft zu den vorliegenden Fragen transformative Impulse setzen können.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass natio-ethno-kulturellen Bezüge, die binär konstituiert sind, von Lehrpersonen im Unterricht aktiv etabliert werden. Dies geschieht in mehreren Fällen über subjektorientierte Ansätze, in welchen die familiären und biographischen Referenzen der Schüler*innen in den Vordergrund gerückt werden. Diese Konzeption von Zugehörigkeit entspricht einem geteilten Wissen aller am Unterricht Beteiligten. Von Schüler*innen werden aber auch regelmässig transformative Zugehörigkeitsansätze angesprochen oder Momente der Irritation initiiert. In den Gruppengesprächen zeigt sich, dass die Jugendlichen durchaus über alternative Zugehörigkeitskonzepte verfügen (z.B. Mehr-Heimatigkeit, Kein-Heimatigkeit oder Zugehörigkeit lokaler Ordnung). Aus den Lehrpersoneninterviews wird deutlich, dass eine Lücke zwischen den pädagogischen und fachlichen Intentionen der Lehrpersonen – bezüglich der Auseinandersetzung mit Zugehörigkeitsfragen – und ihren Handlungen im Unterricht besteht. Als Angebot für die Fachdidaktik wurden deshalb unterschiedliche Vorschläge erarbeitet, welche sich dem Umgang mit Differenz («Differenzierung zur Teilhabe») sowie fachlichen und fachdidaktischen Fragen (Binnendifferenzierung von Kollektivbegriffen, Migration als Perspektive thematisieren) widmen und zu einer diversitätssensiblen und rassismuskritischen Politischen Bildung beitragen sollen.