Autorin: Dr. phil. des. Jana Lindner
Gutachtende: Prof. Dr. Elena Makarova, Universität Basel (CH), Prof. Dr. Dorothee Brovelli, Pädagogische Hochschule Luzern (CH), Marita Kampshoff,Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd (D)
Projektdauer: 2019 - 2025

Abstract
Trotz anhaltender Gleichstellungsbemühungen bestehen im schulischen MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) weiterhin geschlechtsspezifische Disparitäten. Besonders Mathematik und Physik gelten unter Schüler*innen als männlich konnotiert (Makarova & Herzog, 2015; Moseley & Norris, 1999), während weibliche Vorbilder in Lehrmitteln häufig fehlen (Herzog et al., 2019; Wenger & Makarova, 2019). Auch fach- und geschlechtsbezogene Überzeugungen von Lehrpersonen tragen zur Stabilisierung traditioneller Geschlechterbilder bei (Galdi et al., 2014; Makarova et al., 2019). Diese Voraussetzungen erschweren insbesondere Schülerinnen den Zugang zu MINT-Inhalten, wirken sich negativ auf Interesse, Selbstkonzept und berufliche Aspiration aus (Heyder et al., 2019; Leroy et al., 2025; Miller et al., 2024) und verstärken langfristig die Unterrepräsentation von Frauen in mathematikintensiven Berufsfeldern (SKBF, 2018).

Vor diesem Hintergrund geht die Dissertation der übergeordneten Forschungsfrage nach, inwiefern sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen im Mathematik- und Physikunterricht in unterschiedlichen Bereichen schulischer Praxis manifestieren. Die Dissertation folgt einem parallelen Mixed-Methods-Design (Greene et al., 1989) und integriert quantitative sowie qualitative Erkenntnisse in einer theoriegeleiteten Synthese auf Grundlage der sozialen Rollentheorie (Eagly & Wood, 2012).

Entlang dieser theoretischen Perspektive untersucht die Dissertation, wie sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen im Mathematik- und Physikunterricht auf verschiedenen Ebenen – in fach- und geschlechtsbezogenen Überzeugungen von Lehrpersonen, in der Darstellung von Fach- und Geschlechterbildern in Lehrmitteln sowie in der Wahrnehmung und Aneignung dieser (Vor-)Bilder durch Schülerinnen – manifestieren. Die quantitative Studie basiert auf einer standardisierten Online-Befragung angehender Lehrpersonen (n = 260) in der deutschsprachigen Schweiz und analysiert geschlechts- sowie mathematikspezifische Überzeugungen. Die qualitative Studie umfasst Einzel- und Gruppeninterviews mit Lehrpersonen (n = 20) und Schülerinnen (n = 80) der Sekundarstufe II und beleuchtet die Rezeption geschlechterbezogener Darstellungen in Physiklehrmitteln.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen auf struktureller, didaktischer und individueller Ebene manifestieren, überlagern und zur Reproduktion geschlechterbezogener Erwartungen beitragen. Zugleich werden im schulischen MINT-Kontext Reflexionsprozesse und erste Ansätze geschlechtersensibler Unterrichtsgestaltung sichtbar, die entscheidend sein können, um den Reproduktionskreislauf geschlechterbezogener Stereotype zu durchbrechen – einen Kreislauf, der durch schulische Vermittlung und Aneignung überwiegend unbewusst und fächerübergreifend aufrechterhalten wird.

Die Dissertation formuliert Implikationen für Theorie und Praxis und leistet damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung wissenschaftlicher Diskurse über Geschlechtergerechtigkeit im Bildungssystem sowie zur Professionalisierung von Lehrpersonen im Hinblick auf eine geschlechtersensible Unterrichtspraxis im MINT-Bereich.

Literatur
Eagly, A. H., & Wood, W. (2012). Social role theory. In P. A. M. van Lange, A. W. Kruglanski, & E. T. Higgins (Eds.), The Handbook of Theories of Social Psychology (pp. 458–476). Sage.

Galdi, S., Cadinu, M., & Tomasetto, C. (2014). The Roots of Stereotype Threat: When Automatic Associations Disrupt Girls' Math Performance. Child Development, 85(1), 250–263. https://doi.org/10.1111/cdev.12128

Greene, J. C., Caracelli, V. J., & Graham, W. F. (1989). Toward a Conceptual Framework for Mixed-Method Evaluation Designs. Educational Evaluation and Policy Analysis, 11(3), 255–274. https://doi.org/10.2307/1163620

Herzog, W., Makarova, E., & Fanger, F. (2019). Darstellung der Geschlechter in einem Physik- und in einem Chemieschulbuch für die Sekundarstufe II. In E. Makarova (Ed.), Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl: Beiträge aus Forschung und Praxis (pp. 108–127). hep.

Heyder, A., Steinmayr, R., & Kessels, U. (2019). Do Teachers' Beliefs About Math Aptitude and Brilliance Explain Gender Differences in Children's Math Ability Self-Concept?. Frontiers in Education, 4. https://doi.org/10.3389/feduc.2019.00034

Leroy, N., Max, S., & Pansu, P. (2025). How stereotype knowledge and stereotype belief impact girls’ self-efficacy and math performance: A response surface analysis approach. Learning and Instruction, 96, 102071. https://doi.org/10.1016/j.learninstruc.2024.102071

Makarova, E., Aeschlimann, B., & Herzog, W. (2019). The Gender Gap in STEM Fields: The Impact of the Gender Stereotype of Math and Science on Secondary Students' Career Aspirations. Frontiers in Education, 4, 1–11. https://doi.org/10.3389/feduc.2019.00060

Makarova, E., & Herzog, W. (2015). Gender Roles Within the Family: A Study Across Three Language Regions of Switzerland. In S. Safdar & N. Kosakowska-Berezecka (Eds.), Psychology of Gender Through the Lens of Culture: Theories and Applications (pp. 239-264). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-14005-6_12

Miller, D. I., Lauer, J. E., Tanenbaum, C., & Burr, L. (2024). The development of children’s gender stereotypes about STEM and verbal abilities: A preregistered meta-analytic review of 98 studies. Psychological Bulletin, 150(12), 1363–1396. https://doi.org/10.1037/bul0000456

Moseley, C., & Norris, D. (1999). Preservice teachers’ views of scientists. Science and Children, 37(1), 50–53.

Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

Wenger, N., & Makarova, E. (2019). Gendergerechtigkeit von Lehrmitteln in naturwissenschaftlichen Fächern. In E. Makarova (Ed.), Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl: Beiträge aus Forschung und Praxis (pp. 128–148). hep.

Nach oben