Autorin: Dr. phil. des. Andrea Gerber
Gutachtende: Prof. Dr. Andreas Krause (PH FHNW), Prof. Dr. Andrea Maihofer (Universität Basel)
Projektdauer: 2017-2022

Abstract
Hochschulen haben bezüglich Diversity eine besondere Verantwortung: eine rechtliche, eine öffentlich-politische und eine normative. Dies lässt sich aus dem öffentlichen Bildungsauftrag, aus der Verpflichtung gegenüber Gleichstellungsgesetzen und aus Ansprüchen auf Bildungsgerechtigkeit ableiten. Gleichzeitig sind Fachhochschulen Teil von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und damit an der (Re-)Produktion von Differenzen und institutioneller Diskriminierung beteiligt. Dies zeigt sich anhand von Strukturen, Fachkulturen und Handlungspraxen. Beim Denken und Handeln der Akteur*innen, nämlich der Fachhochschullehrenden, setzte meine Studie an und veranschaulicht diese Prozesse.

Meine Studie ergänzt Forschungen in unterschiedlichen Bildungsorganisationen (vgl. Ahmed 2006; Diehm/Kuhn/Machold 2017; Kalpaka 2015; Le Breton et al. 2023; Riegel 2016) und schliesst eine Lücke für den Fachhochschulkontext in der Schweiz.

Die Studie ging den Fragen nach, wie Hochschullehrende im Kontext von Diversity methodisch-didaktisch ihre Lehre gestalten und in welcher Art und Weise sie sich mit Diversity auseinandersetzen. Das Sample umfasst zwölf Interviews mit Fachhochschuldozierenden aus drei unterschiedlichen Deutschschweizer Fachhochschulen und unterschiedlichen Disziplinen. Der Fokus lag auf der Bachelor-Ausbildung. Als Auswertungsmethode wurde das problemzentrierte Interview (Witzel 2000) eingesetzt. Die Auswertung erfolgte mit theoretischem Kodieren im Rahmen der Grounded-Theory Methodologie. Den gesamten Forschungsprozess begleitete eine intersektionale Analyseperspektive (Cho/Crenshaw/McCall 2013; Riegel 2016), um eine machttheoretische und strukturelle Perspektive auf Diversity einnehmen zu können.

Im Rahmen der Hochschulbildung bewegen sich die Lehrenden in einem breiten Spektrum der (Re-) Produktion von Ungleichheiten und Exklusion – dies wurde anhand der dialektischen Prozesse von Selbstaffirmierung und Othering (Maihofer 2014; Spivak 1985) unter Berücksichtigung einer intersektionalen Analyseperspektive herausgearbeitet. Es zeigt sich bei den Lehrenden jedoch auch der Wille zu Veränderungen und Erweiterungen des Handlungsspektrums. Darin liegt ein Moment der paradoxen Gleichzei- tigkeit von Persistenz und Wandel (vgl. Maihofer 2007). Die produktive Verunsicherung fungiert als Schlüsselmoment für Öffnungs- und Veränderungsprozesse. In Form von Hegemeonieselbstkritik (z. B. hinterfragen der eigenen Positionierung, der (kolonialen) Wissensproduktion) und in Form einer veränderten Zielgruppenanalyse, z. B. durch ein Hinterfragen der «mythischen Norm» (Lorde 2021) und in ei- ner stärkeren Berücksichtigung von Affekten und Emotionen (Ahmed 2014).

Die Erkenntnisse sind wichtig für die Hochschuldidaktik, um die Professionalisierung hinzu einer diversitäts- und machtsensiblen HSL zu unterstützen. Dies kann z. B. mit dem Modus der iterativen Bildung (Kraus 2017) gelingen, der theoriebasierte sowie erfahrungs- und reflexionsbasiertes Lernen im Prozess der Arbeit integriert. Hochschulen selbst sollten sich zunehmend fragen, was sie wirklich tun im Prozess des Doing Diversity (vgl. Ahmed 2006) und wie sie sich selbst produktiv verunsichern lassen.

 

Literatur

Ahmed, Sara (2006). Doing Diversity Work in Higher Education in Australia. In: Educational Philosophy and Theory.

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Ahmed, Sara (2014). Kollektive Gefühle oder die Eindrücke, die andere hinterlassen. In: Baier, Angelika/Binswanger, Christa/Häberlein, Jana/Nay, Yv Evelin/Zimmermann, Andrea (Hg.). Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie. Wien: Zaglossus. S. 183-214.

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Diehm, Isabell /Kuhn, Melanie/Machold, Claudia (2017) (Hg.). Differenz - Ungleichheit - Erziehungswissenschaft: Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer Fachmedien. URL: https://doi.org/10.1007/978-3-658-10516-7.

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Lorde, Audre (2021). Sister Outsider. "Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen.". München: Carl Hanser. Maihofer, Andrea (2007). Gender in Motion: Gesellschaftliche Transformationsprozesse – Umbrüche in den

Geschlechterverhältnissen? Eine Problemskizze. In: Grisard, Dominique/Häberlein, Jana/Kaiser, Anelis/Saxer, Sibylle (Hg.). Gender in Motion: Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung. Frankfurt/New York: Campus. S. 281-315.

Maihofer, Andrea (2014). Hegemoniale Selbstaffirmierung und Veranderung. In: Hostettler, Karin/Vögele, Sophie (Hg.). Diesseits der imperialen Geschlechterordnung: (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen.

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Witzel, Andreas (2000). Das Problemzentrierte Interview. In: Forum qualitative Sozialforschung. 1. Jg. (22). URL: https://doi.org/10.17169/fqs-1.1.1132