Doing Gender Prozesse von Sportlehrpersonen hinsichtlich ihren Schüler:innen im Sportunterricht: Eine rekonstruktive Studie zu handlungsleitenden Mustern
Autor: Dr. phil. des. Raphael Willi
Gutachtende: Prof. Dr. Roland Messmer, Pädagogische Hochschule FHNW, Prof. Dr. Markus Gerber, Universität Basel
Projektdauer: 2020 - 2025
Abstract
Die Debatte hinsichtlich mono- und koedukativen Sportunterrichts ist mit Widersprüchen durchzogen. Dies lässt sich insbesondere betreffend einer (Re)produktion des sozialen Geschlechts und eines damit gewünschten Abbaus von Geschlechterdifferenzen feststellen (siehe Flintoff & Scraton, 2001; Hannon & Ratliffe, 2007; Mutz & Burrmann, 2014; Sobiech, 2010). Nebst dieser geschlechtsbezogenen Organisation von Sportklassen, wird in diesem Zusammenhang der Sportlehrperson eine entscheidende Rolle attestiert (siehe Gramespacher, 2007; Hoven, 2017; Kunert-Zier, 2005; Metz-Göckel & Roloff, 2002). Dabei wird gefordert, dass Sportlehrpersonen eine Genderkompetenz aufbauen sollen, um geschlechtssensibel unterrichten zu können. Dieser Anspruch wird formuliert, ohne annähernd ausreichend zu wissen, in welcher Art und Weise sich geschlechtsbezogene Konstruktionen von Sportlehrpersonen im Sportunterricht überhaupt manifestieren. Wenn dieser Anspruch ernst genommen wird, müssen mehr Erkenntnisse vorliegen, wie sich soziale Geschlechtskonstruktionen von Sportlehrpersonen hinsichtlich ihren Schüler:innen im kontext- und situationsspezifischen Sportunterricht gestalten. Folglich wurde diese Forschungslücke mit der Fragestellung – Wie gestalten sich Doing Gender Prozesse von Sportlehrpersonen bezüglich ihren Schüler:innen im Sportunterricht? – bearbeitet. Dies verlangt nach einem explorativen qualitativ-rekonstruktiven Zugang. Diverse Daten von insgesamt acht Sportlehrpersonen wurden erhoben. Dabei kamen mehrere sich gegenseitig ergänzende Methoden zum Einsatz: narrative Pilotinterviews, Unterrichts-Videographien mit Brillen- und Weitwinkelkamera, Unterrichtsbeobachtungen und Video Stimulated Recall Gespräche (Messmer, 2015). Der gesamte Datenkorpus wurde mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack et al., 2013; Nohl, 2017) ausgewertet. Als Hauptergebnis konnte die Basistypik Asymmetrische Dichotomisierung = «Gas geben» = Sportunterricht herausgearbeitet werden, welche insofern als Kondensat verstanden werden kann, als dass Sportlehrpersonen im Sportunterricht insbesondere eine Bewegungsquantität bedeutsamer als eine Bewegungsqualität, konditionelle Aspekte bedeutsamer als koordinative sowie kompetitive Aspekte bedeutsamer als kreative darstellen. Dabei werden von Sportlehrpersonen Bewegungsquantität und konditionelle sowie kompetitive Aspekte nicht nur primär mit Schülern – also mit Jungen – in Verbindung gebracht, sondern darüber hinaus als etwas Konstitutives für das Fach Sport per se verstanden. Vor diesem Hintergrund lassen sich Anknüpfungspunkte zu Goffmans (1977) geschlechtstheoretischer Konzeption Institutional Reflexivity identifizieren. Die gewonnenen evidenzbasierten Erkenntnisse helfen in der Fachdidaktik Sport vorhandene Muster in der Wahrnehmung von Geschlecht und eine damit in Zusammenhang stehende Stigmatisierung im Sportunterricht aktiv zu bearbeiten – dies nicht nur als Fallarbeit, sondern auch als theoretische Konstrukte.
Literatur
Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I., & Nohl, A.-M. (2013). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (3., aktualisierte Aufl.). Springer VS. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-19895-8_1
Flintoff, A., & Scraton, S. (2001). Stepping into Active Leisure? Young Women’s Perceptions of Active Lifestyles and their Experiences of School Physical Education. Sport, Education and Society, 6(1), 5-21.
Goffman, E. (1977). The Arrangement between the Sexes. Theory and Society, 4(3), 301-331.
Gramespacher, E. (2007). Gender Mainstreaming in der Schul(sport)entwicklung. Eine Genderanalyse an Schulen. PhD.
Hannon, J. C., & Ratliffe, T. (2007). Opportunities to participate and teacher interactions in coed versus single-gender physical education settings. Physical Educator, 64(1), 11-20.
Hoven, S. (2017). Geschlechtergerechtigkeit im koedukativen Sportunterricht. Eine empirische Analyse zur Genderkompetenz von Sportlehrkräften in der gymnasialen Sekundarstufe I. PhD.
Kunert-Zier, M. (2005). Erziehung der Geschlechter. Entwicklungen, Konzepte und Genderkompetenz in sozialpädagogischen Feldern. VS.
Messmer, R. (2015). Stimulated Recall als fokussierter Zugang zu Handlungs-und Denkprozessen von Lehrpersonen. Forum: Qualitative Social Research, 16(1).
Metz-Göckel, S., & Roloff, C. (2002). Genderkompetenz als Schlüsselqualifikation. Journal für Hochschuldidaktik, 13(1), 7-10.
Mutz, M., & Burrmann, U. (2014). Sind Mädchen im koedukativen Sportunterricht systematisch benachteiligt? Neue Befunde zu einer alten Debatte. Sportwissenschaft, 44(3), 171-181. https://doi.org/DOI 10.1007/s12662-014-0328-x
Nohl, A.-M. (2017). Interview und Dokumentarische Methode. Anleitung für die Forschungspraxis (5. Aufl.). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16080-7
Sobiech, G. (2010). Gender als Schlüsselqualifikation von (Sport-)Lehrkräften. In N. Fessler, A. Hummel, & G. Stibbe (Hrsg.), Handbuch Schulsport (S. 554 - 569). Hofmann-Verlag.