Autorin: Nadja Wenger
Gutachtende: Prof. Dr. Patrick Bühler (PH FHNW), Prof. Dr. Hans-Ulrich Grunder (Universität Basel), Prof. Dr. Béatrice Ziegler (PH FHNW)
Projektdauer: 2015-2021

Abstract
Schulpsychologische Dienste sind seit 100 Jahren nicht mehr aus dem schweizerischen Bildungssystem wegzudenken. Dennoch wurde in der Forschung bis anhin kaum untersucht, warum und wie sich die Institutionen etablieren konnten. Die Dissertation, die im Rahmen eines SNF-Forschungsprojekts verfasst wurde, schliesst diese Lücke und untersucht, wie und warum in der Schweiz schulpsychologische Beratungsstellen entstanden sind. Die Forschungsfragen sind in einen bildungsgeschichtlichen, wissens- und kulturgeschichtlichen Kontext einzuordnen: Im Zentrum der Untersuchung stehen die ersten drei öffentlichen schulpsychologischen Dienste der Deutschschweiz, die alle von Psychologen und einer Psychologin geleitet wurden: In Bern wurde 1920 die Beratungsstelle für Erziehungsfragen gegründet, geleitet von Hans Hegg (1893-1967). In Basel wurde 1928 die Erziehungsberatungsstelle gegründet, als Vorsteher Ernst Probst (1894-1980) eingesetzt. Und in St. Gallen erfolgte 1939 die Gründung der Fürsorgestelle für Anormale. Leiterin war Bärbel Inhelder (1913-1997), die erste Schulpsychologin der Schweiz, und nach deren Weggang an die Universität Genf, übernahm  Ernst Boesch (1916-2014) die Leitung.

Allen drei Institutionen oblag die Untersuchung von Schulkindern und der Entscheid über die Zuweisung zu einer Spezial- oder Sonderklasse. Massstab war die Intelligenz der Kinder. Diese konnte dank der Entwicklung der Psychologie und deren psychometrischen Testverfahren gemessen und verglichen werden. Weil das Testen von Schulkindern nach «Expertenwissen» verlangte, übernahmen Psychologinnen und Psychologen diese Aufgaben in den neu gegründeten Institutionen. Ihre Aufgabe bestand aber auch darin, Kinder und Eltern, vor allem Mütter, bei Schwierigkeiten in der Schule oder Familie zu beraten.

Schulpsychologische Dienste wurden auch explizit von Behörden beauftragt, Schulkinder aus Klassen und Familien zu nehmen und in Heimen und Anstalten zu «versorgen»: In St. Gallen beispielsweise mussten Inhelder und Boesch systematisch alle Schulen auf dem Land besuchen, um «anormale» Kinder zu untersuchen und sie aus den «Normalklassen» zu «entfernen». Da es im Kanton St. Gallen kaum Spezialklassen gab, wurde in vielen Fällen eine «Versorgung» in einem Heim angeordnet.

Diese Massnahme zeigt erstens die Ambivalenz des Sozialstaates: Für manche Kinder war die Wegnahme aus der Familie eine Erleichterung, zum Beispiel bei Gewalterfahrungen, andere hingegen litten massiv unter der «Versorgung». Zweitens ist der Auf- und Ausbau schulnaher Beratungsdienste auch als Vorgang einer staatlichen Sozialdisziplinierung zu betrachten. Die Arbeit belegt denn auch, dass primär Kinder aus einer sozialen Unterschicht von schulpsychologischen Massnahmen betroffen waren.