Die Organisationskultur der Schule erfassen, verstehen und nutzen
Promovend: Adrian Bucher
Keywords: Organisationskultur, nichtentschiedene Entscheidungen, Gruppendiskussion, Dokumentarische Methode
Gutachtende: Prof. Dr. Wassilis Kassis, Prof. Dr. Elena Makarova, Prof. Dr. Karin Manz
Laufzeit: HS 2019 - HS 2022
Bringt man das Dissertationsprojekt in einem Forschungsdesiderat zusammen, dann entsteht folgendes vorläufiges Gebilde: Durch die Erprobung eines konsequent qualitativen methodischen Vorgehens zur Erforschung der für Schul- und Unterrichtsentwicklungen hochrelevanten organisationskulturellen Ausprägungen der einzelnen Schule kann ein Beitrag zum Schliessen einer Forschungslücke geleistet werden, welcher sich der bisher nicht ausreichend ausgeleuchteten Thematik des Spannungsfelds zwischen beabsichtigten und tatsächlich bewirkten Veränderungen an Schulen unter dem Gesichtspunkt der ‘kulturellen Gegebenheiten’ widmet. Zu beobachten ist in der Schullandschaft, dass sich Entwicklungsprojekte oder Reformen unterschiedlich etablieren, auf halber Strecke stecken bleiben oder im Vergleich mit den ursprünglichen Zielsetzungen verzerrt bei den Betroffenen ankommen. ‘Kulturelle Aspekte von Schulen’ liefern mit grosser Wahrscheinlichkeit Gründe und Erklärungen dafür, weshalb dieselben Schulreformen oder Entwicklungsprojekte in gewissen Schulen gelingen und in anderen nicht. Neubauer (2003: 177) schreibt, dass es in Organisationen nicht um „Kulturmanagement” gehen kann und sollte, sondern um „kulturbewusstes Management”. Diese Wendung trifft den Kern des in der Dissertation verfolgten Ansatzes. Es geht primär darum, kulturelle Aspekte der Schule in ihrer Einzigartigkeit zu erfassen, daran anschliessend zu verstehen und dadurch für diese Einzelschule nutzbar zu machen. Sekundär – jedoch im Idealfall nicht minder interessant – ist die Frage nach verallgemeinerbaren kulturellen Phänomenen verschiedener Schulen. Gleichwertig berücksichtig wird zudem die Suche nach einem forschungsmethodischen Vorgehen zur Erfassung der Organisationskultur von Schulen. Hier nämlich besteht eine ‘wissenschaftliche Lücke’ – und in diesem Sinne hat die Dissertation auch gewichtige Anteile einer methodischen Arbeit. Alles in allem gilt die Organisationskulturforschung trotz ihrer Vielfalt an theoretischen Konzepten und methodischen Verfahren als „[…] theoretisch unentwickeltes, insbesondere aber auch methodisch unzureichend ausgestattetes Forschungsfeld” (Bohnsack 2007: 147). Ein gewichtiger Grund dafür liegt im Begriff ‘Kultur’ selber. Dieser diffundiert sowohl im Alltag wie auch in der Wissenschaft zunehmend (vgl. z.B. Schönig 2002: 818). Nicht besser ergeht es konsequenterweise dem Begriff der Organisationskultur. Kühl (2018: 3) beschreibt diesen als einen „terminologischen Staubsauger”, der alles aufsaugt, was irgendwie mit Kultur zu tun hat. Die theoretische Klärung dessen, was unter Organisations- bzw. Schulkultur fortan verstanden und im Rahmen der Dissertation letztlich unter dem Terminus ‘nichtentschiedene Entscheidungen’ (vgl. Kühl 2018: 25) definiert wird, ist Inhalt des ersten Teils der Dissertation – gestützt auf die System- und Entscheidungstheorie Luhmanns im weiteren und die Organisationskulturtheorie Kühls im engeren Sinne. Kaum ein Text über den methodologischen Zugang zur Organisationskultur lässt unerwähnt, dass der qualitative Zugang – insbesondere im Dreieck Beobachtung, vertiefende Interviews und gemeinsame Interpretation – der ‘Königsweg’ sei. Die Dissertation verfolgt deshalb ein konsequent qualitatives, zirkuläres Design: Mit ‘Schlüsselpersonen’ (‘Kulturträger’) werden Gruppendiskussionen (als Tiefeninterviews, problemzentrierte Interviews oder Fokusinterviews) geführt und beobachtet, welche sich an Schlüsselereignissen (‘Kulturmomente’) orientieren. Die Interviews werden dann mit der dokumentarischen Methode ausgewertet (vgl. Bohnsack 2007). Dies mit dem Ziel, Typen von nichtentschiedenen Entscheidungen herauszuarbeiten. Diese Ergebnisse werden in einem dritten Schritt der Schule zur Validierung in Gruppen vorgelegt, mit anschliessender Aufarbeitungen hin zum ausformulierten ‘Kulturprofil’ der Schule. Dieses wird der Schule zurückgemeldet, verbunden mit einer weiteren ‘Schlaufe’ in Bezug auf die Anschlussfähigkeit des ‘Kulturprofils’, um den Dreischritt und aktuellen Titel der Dissertation – ‘Die Organisationskultur der Schule als nichtentschiedene Entscheidungen erfassen, verstehen und nutzen’ – abzurunden. Damit wird konsequent ein rekursives, mehrstufiges Vorgehen angestrebt, wie es qualitativen Forschungszugängen eigen ist. Dabei spielt der Aspekt der Reflexion eine entscheidende Rolle, letztlich auch, um einer möglichen Nutzbarmachung im konkreten schulischen Kontext den Weg zu ebnen.
Die bis heute ausgearbeiteten Forschungsfragen lauten:
• Welche organisationstypischen Muster (definiert als nichtentschiedene Entscheidungen) lassen sich über die Thematisierung von ‘Schlüsselereignissen’ eruieren? Wo liegen dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die vier Fallstudien? Wie lassen sich die Ergebnisse und Erkenntnisse dem Verstehen und Nutzen der Schule zugänglich machen?
• Wie sieht ein praktizierbares Design mit angemessenem Aufwand zur Erfassung der Organisationskultur einer Schule aus, welches sich aus dem aufwändigen qualitativen Forschungsdesign ableitet, ohne dabei die aus der Forschung gewonnenen Erfolgskriterien und Gelingensbedingungen dieses Zugangs aus den Augen zu verlieren?
Der Gewinn und Neuigkeitswert der Dissertation lässt sich folgendermassen beschreiben:
- Eine Engerfassung, verbunden mit einer klaren Definition von dem, was unter ‘Organisationskultur’ bzw. ‘Schulkultur’ verstanden werden soll;
- Eine nachvollziehbare, stringente, erprobte und ausgereifte qualitative methodische Vorgehensweise zur Erfassung dieses Phänomens;
- Erkenntnisse in Bezug auf die Einzigartigkeit bzw. Vergleichbarkeit von organisationskulturellen Mustern von Schulen;
- Einspeisung der Ergebnisse und Erkenntnisse in die Arbeit des Zentrums Bildungsorganisation und Schulqualität sowie in die vorhandene Kooperation mit verschiedenen Kantonen sowie Bundesländern.